Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Vorlesungsskript 1998

Semiotische Oekologie

1999.00

@SemEcoSyst

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1. Einstieg

© 1998 by Alfred Lang

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Inhalt

 

 

1. Einstieg


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1.1 Motivationslage

1.2 Leitidee(n)

1.3 Einige Beispiele

1.4 Einige Aspekte zum Markieren und Behalten


1.1. Motivation

1. Wenig in der Welt verstehen wir so schlecht wie uns selbst!

2. Das Menschenbild als Schlüssel: es ist nicht auf Dauer auszuhalten, dass in einem Werktagsbild Menschen wie Maschinen auf Funktionalität getrimmt und Leistung maximalisiert oder bei Misslingen ausgeschieden werden, fast um jeden Preis, während sie im Sonntagsmenschenbild ihre Freiheit und ihre höhere Bestimmung meditieren mögen, freiwillig oder dazu durch ihren Ausschluss aus dem Werktag, durch ihre offensichtliche Überflüssigkeit im Werktag gewissermassen verurteilt (vgl. Lang 1994-99, Herders Menschenbild).

3. Philosophie und Psychologie sollten eigentlich in erster Linie Anthropologie sein, zusammen mit verwandten Wissenschaften. Dh allgemeine und empirische Anthropologie (nicht spekulative oder normative; und auch nicht bloss soziale oder kulturelle, schon gar nicht nur medizinische oder biologische Anthropologie). Oder es sollten Wissenschaften herausgebildet werden, welche sich diese Aufgabe wirklich zu eigen machen. Derzeit ist das Wissenschaftssystem in seinem Verhältnis zu den Menschen, die es machen und für die es gemacht wird, die reine Anarchie, einigen wenigen Amateuren überlassen bzw. für allerarten von Zwecken instrumentalisiert (vgl. Lang 1998, Psychologie, Wissenschaft des 21. Jahrhunderts?). Dem ist schon länger so.

1763 hat die Berner Patriotische Gesellschaft einen Preis ausgeschrieben für die beste Schrift zum Thema: "Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden?" In den Entwürfen, den der 19-jährige Johann Gottfried Herder hinterlassen, nicht eingereicht hat, heisst es:

"Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolomäischen, das Kopernikanische System ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen [sich] hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Anthropologie wird." (DKV 1:134)

Charakteristisch, dass Herder den Ausdruck "Wahrheit" des Preisausschreibens in seinem Titel weglässt. Wahrheit, ewige, sichere, verlässliche Wahrheit, ist ihm, wie er in der Abhandlung darlegt, schon damals eher suspekt. Hat Herder diese Übertragung vom Weltbild auf das Menschenbild in seiner Studienzeit bei Kant selber erfunden? Es ist wahrscheilich, dass Kant zumindest einige von Herders diesbezüglichen Ideen kannte. Oder hat Kant selbst diesen Vergleich erfunden? Gegen letzteres spricht, dass er ihn erst 1787 im Vorwort zur 2.Auflage der Kritik der reinen Vernunft publizierte, in einer Periode erneuter Auseinandersetzung mit Herders Denken. Kant hat den Gedanken missverstanden oder entstellt. Denn der Übergang zu

4. Psychologie ist als einschlägige Abspaltung von Philosophie und teils unter Bezugnahme auf Physiologie eingerichtet worden, um die "Wahrheit" über das Geistige der Menschen zu finden, zu bestimmen. Sie hat sich als grandiose Fehlentwicklung erwiesen, entscheidend deswegen, weil sie gleich zur ersten Jahrhundertwende ihrer jungen Halbselbständgkeit sich auch gespalten hat, wie ihre philosophische Fakultät, zweigeteilt in eine sog. Natur- und eine sog. Geisteswissenschaft, in je separate Disziplinen(gruppen). Doch sind "Natur" und "Geist" ja nicht vorfindbare Gegebenheiten, sondern menschliche Erfindungen, Konstruktionen. Der Spaltung aufgesessen und dann entweder der einen oder der anderen Seite der Medaille vergessend und den Gegenpol zu unterdrücken versuchend, ist diese Psychologie fehlgeleitet, wenn sie Menschen nicht gründlich und systematisch (i.G. zu aufgesetzt) als ebensosehr kulturelle wie biotische Wesen begreift und untersucht. Haben wir gute begriffliche und methodische Mittel dazu?

5. Die semiotische Ökologie ist nichts anderes als ein Versuch, solche Mittel zu erarbeiten und in ausgewählten Feldern zu erproben / zu verbessern. Solche Mittel lassen sich in ihrer Gewinnung nicht von ihren (inhaltlichen) Feldern ablösen. Eine Durchführung eines solchen Vorhabens impliziert notwendig eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Feld, wofür die Mittel gedacht sind. Immerhin kann man die Mittel dann von der Sache abstrahieren und zu Übersichts- und didaktischen Zwecken halbselbständig zur Darstellung bringen, stets unter Verweisen auf die entsprechenden Felder. Das ist das Ziel dieser Vorlesung.

6. Wenn nicht in Bälde ein realistischeres Menschenbild greift, kann man (ich) sich (mir) schwer vorstellen, wie die künftige Zeit für die Menschen und viele Tiere  lebenswert bleiben und wieder werden kann.

7. Derzeit (seit etwa zwei Jahrhunderten) werden überwiegend Partialprobleme bearbeitet und überwiegend so "gelöst", dass sie neue Probleme schaffen. So besteht bedarf nach Perspektiven, die gründlicher greifen.

8. Darüber mag man denken, wie man will und ganz anderer Meinung sein. Akzeptieren, wenn nicht unterstützen aber muss man, dass solches versucht wird. An seinen Früchten muss man es beurteilen; nicht voreilig anhand der alten Denkgewohnheiten. Deshalb (weil sonst so leicht Missverständnissse möglich sind) äussere ich gelegentlich die Bitte, mir wenigstens eine Zeitlang im Als-Ob zu folgen.

9. Ich kann aus mancherlei Erfahrung mit Schülern und Kollegen versprechen, dass die semiotische Ökologie in Grunde sehr einfach ist, so kompliziert immer sie am Anfang erscheinen mag. Ist man einmal über den Berg, wird man überrascht und vielleicht beglückt sein, wie viele unserer gängigen, und seit Jahrhunderten bis Jahrtausenden als ungelöst mitgeschleppten Problemstellungen der Philosophie, Psychologie, Soziologie etc. sich als Scheinprobleme erweisen, künstlich erzeugt durch Setzungen, die willkürlich sind. (Man denke nur an das merkwürdige Subjekt-Objekt- oder das Erfahrungsproblem.)

 

1.2. Leitidee(n)

1. Die abendländischen Religionen, Philosophien, Wissenschaften und weitgehend auch die sie bestimmenden und davon beeinflussten Mythen, Normen, Politiken, Bildungsperspektiven etc. haben Menschen überwiegend als einen Entwurf auf ein Ideal hin gesehen und ebenso den Rest der Welt als einen Fundus zu der Menschen Verfügung und Nutzen. Die Wissenschaften und die draus entwickelten Techniken heute sind geradezu besessen von der Idee der Verbesserung von diesem und jenem, einschliesslich -- bald einmal -- der Menschen selbst.

2. Die Orientierung an idealen Entwürfen mag ja nicht grundsätzlich falsch sein; probematisch aber schon, weil sie so leicht den Blick auf die Wirklichkeit verstellen kann. (vgl.nachstehendes Zitat aus Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften: Kapitelentwurf: Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen.) Besonders die unrealistischen, idealistischen Entwürfe der Religionen, der Philosophie, vieler Wissenschaften haben erleichtert, dass immer wieder besonders Tüchtige solche Ideale auf ihre Weise formuliert und zu ihrem Partikulärnutzen verbreitet und den anderen aufzuerlegen versucht haben. Wenig kann so leicht und "ertragreich" ausgebeutet werden wie Idealismus. Und weite Teile der Wissenschaftler und Techniker sind überwiegend damit beschäftig, das Unheil, das ihrer Vorgänger im Verfolg von idealisierenden Verbesserungsaktionen hinterlassen haben, zu reparieren versuchen. Wir Menschen haben uns selber in eine doch recht problematische Lage gebracht und damit uns selber und mehr beträchtlichem Risiko ausgeliefert, einer Lage, in der uns all jene Risiken, welche die Moderne doch ausgezogen ist zu vermindern, beträchtlich über den Kopf wachsen.

"Darum ist es das Lebenerhaltende schlechthin, dass es der Menschheit gelungen ist, anstatt dessen, «wofür es sich wirklich zu leben lohnt», das «dafür» leben zu erfinden oder, mit andern Worten, an die Stelle ihres Idealzustandes den ihres Idealismus zu setzen. Es ist ein Davorleben; anstatt zu leben «strebt» man nun, und ist seither ein Wesen, das mit allen Kräften ebensowohl zur Erfüllung hindrängt als es auch des Anlangens enthoben ist. «Für etwas leben» ist der Dauerersatz des «In». […] Dieses «zu Ehren von etwas» etwas anderes tun, ist übrigens von dem Etwas noch ein wenig weiter entfernt als das Für und stellt darum die am meisten angewandte, weil sozusagen billigste Methode dar, im Namen eines Ideals alles das zu tun, was sich mit ihm nicht vereinbaren lässt.

Denn der Vorteil alles [«]Für und Zu Ehren[»] besteht nicht zuletzt darin, dass durch den Dienst am Ideal alles wieder ins Leben hineinkomme, was durch das Ideal selbst ausgeschlossen wird. [… Die] unheimliche Beobachtung, dass das zivilisierte Leben zweifellos eine Neigung zu den rohesten Ausbrüchen hat, und dass diese nie roher sind, als wenn sie zu Ehren grosser und heiliger, ja sogar zarter Gefühle erfolgen! Werden sie da als entschuldigt gefühlt? Oder ist das Verhältnis nicht vielmehr das umgekehrte?

So kommt man auf vielerlei zusammenhängenden Wegen dahin, dass die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind sondern es lieber sein wollen, und ahnt, wie sie unter dem einleuchtenden Vorwand, dass das Ideale seiner Natur nach unerreichbar sei, die schwere Frage verschleiern, warum es so ist." (Musil, MoE 1976:1460f., 1952:1362ff.)

3. So möchte die semiotische Ökologie zu einer realistischen Wissenschaft vom Menschen beitragen. Realität ernst nehmen, heisst auf Vorausdefinition von irgendetwas zu verzichten. Denn definieren heisst ausgrenzen. Ausgegrenzt aber kann etwas sein Potential nicht entfalten. Stattdessen etwas, was auffällt, in den Blick nehmen und damit so "experimentieren" dass alle seine möglichen Bezüge zum spielen kommen können ist zu bevorzugen. Das Wesen der Dinge bestimmen zu wollen und ihre übrigen Möglichkeiten für akzidentell zu halten, geht nur mit Willkür und Macht.

3.1. Das ist gegen Positivismus ebensosehr wie gegen alle Formen von Idealismus gerichtet. Denn es kann ja Idealismus, ein bestimmter "Verbesserungswunsch", dazu verführen einen Sachverhalt unter bestimmen Gesichspunkten ausschliesslich zu untersuchen und andere Bezüge als die gerade ins Auge gefassten auszublenden. (Ein eindrückliches Beispiel ist die negative Bewertung von Aggression, welche die Psychologen fast ausschliesslich unter Gesichtspunkten ihrer Verminderung erforschen, obwohl sie zusammen mit Versöhnung eine unentbehrliche Komponente geordneten Zusammenlebens ist.) Idealistische Entwürfe können höchsten heuristisch und didaktisch zur vorläufigen Orientierung, zum Einstieg in eine Sache dienen. Wehe wenn sie beibehalten, zu einem Gewohnheitsgeleise ausgebahnt werden. Lichtenberg schrieb 1789 in sein Sudelheft, dass unsere Kenntnis der Welt armselig wäre, wenn niemand neben den ausgetretenen Geleisen zu gehen versuchte.

3.2. Wirklich ist was wirkt oder wirken kann. (Lewin 1936, Zusatz Lang, nach Musils Idee des Möglichkeitssinns, den es jmedenfalls für Menschen auch geben muss, wenn sie einen Wirklichkeitssinn haben.)

4. Etwas zur Untersuchung aus seinem Zusammenhang herauszugreifen müsste verbieten, dass man es nur in seinen Teilen analysiert; müsste auch verbieten, es nur willkürlich mit anderem in Beziehung zu bringen. Die untersuchende Strategie (inquiry) muss dem Einbringen in sein Umfeld Primat vor dem Untersuchen der Bestandteile geben. Diese sind erst wichtig, wenn die Interaktion mit dem Umfeld verstanden werden solll (Pflanze und Tier: Sauerstoff lösen und binden; Atom und Moleküle: Valenzen; Person und Kultur: Aspekte der Welt im Kopf, Eigenes in der Welt).

4.1. Es ist unsinnig mit Kant und weiten Teilen der neuzeitlichen Philosophie anzunehmen, zwischen den menschlichen Subjekten und der übrigen Welt der Objekte klaffe ein fundamentaler Graben und das Erkenntnissubjekt müsse darum ringen und sei a priori und exklusiv mit besonderen Mitteln (Anschauungsformen, Vernunft etc.) ausgestattet, den Graben behelfsmässig zu überbrücken. Denn jedes Lebewesen ist deswegen lebensfähig, dass es mit den für es wichtigen seiner Umgebung einen geglückten Bezug verwirklicht. Anderfalls gäbe es dieses Lebewesen nicht, dh kein Lebewesen. Dass dieser Bezug auf eine art- und teils individualspezifische eigene Weise erfolgreich vollzogen werden kann, lässt die Frage, ob es ein "richtiger" Bezug zur Welt an sich sei, zu einer ebenso unsinnigen wie unbeantwortbaren Frage werden. Es ist auch unsinnig, dem erkennenden Bezug vor dem agierenden Bezug einen Primat einzuräumen, weil die durch das Handeln bewirkten Weltveränderungen, die eigenen wie die von Dritten, ebensosehr zum Gelingen des Verhältnisses beitragen können und müssen wir die rezeptiven.

5. Alles, was ich unterscheiden kann, darf ich also nicht aus seinen Wirkungen auf mich zu verstehen suchen (so finde ich darin nur mich selbst!); sondern aus dem Wirken auf und Bewirktwerden durch anderes, was ich unterscheiden oder erschliessen kann. Die gängige Epistemologie des erkennenden Subjekts von ausgewählten Objekten ist also irrig und irreführend.

6. Solche Überlegungen führen zu etwas "Systemischem": Gegliederte Gebilde, die Teile und die Wirkungen zwischen den Teilen zu verstehen; Systeme, in denen unser Ausgangsetwas einen vorläufigen Teil darstellt. Statt alles vorwegzunehmen, hier nur die Leitbegriffe (vgl. 1994_EvoSemEcoKu-Synopse, erste paar Zeilen):

6.1. Ökosysteme: Lebewesen-Umwelt: L-U; Person-Kultur: P-K. (Das traditionelle M-U-System differenziert nicht, dass Menschen in den ersten Lebenswochen anfangen, in einer bestimmten Kultur Personen zu werden und lebenslang durch ihr eigenes Person-Kultur-Verhältnis immer mehr davon erwerben (können)).

6. 2. Evolution, evolutiv: im Werden, im Wandel; weder total bestimmt noch beliebig. (Meine Verwendung des Wortes "evolutiv" statt "evolutionär" meint alle Evolutionen, nicht bloss Bioevolution: von der physiko-chemischen und kosmischen über die planetare einschliesslich Bios, Psyche und Kultur.)

6. 3. Semiotik: die Natur des Prozesses des Wirkens und Bewirktwerdens muss verstanden werden, so dass diese Differenzierungen, wechselweisen Konstitutionen und Regulationen wirklich bedingen sind. Sie beruht, angefangen mit dem Leben, wesentlich auf Bedeutung.

6. 4. Kultur: die Herausbildung von lebenden Systemen wie Organismen (Zellverbänden) oder Sozialsystemen in einer zunächst aufgrund von kosmischer, chemischer und mineralischer Evolution zustandegekommen Umwelt hat sofort auch zu Umweltveränderungen geführt (Hauptbeispiel: die Atmosphöre aus dem Zusammenwirken von Pflanzen und Tieren). Die Rede von der Natur als gegeben ist unsinnig. Diese gemeinsame Evolution von Lebewesen und iher Umwelt mit wechselseitigen Abhängigkeiten führte zu einer besonders inensiven Wandelsphase: die Veränderung ihrer Umgebung (i.b. Werk- und Kultzeuge gefolgt von Sprache) durch Primaten selbst führt zu einer raffinierten Veränderung dieser Primaten zu Menschen und in einem immer noch rasch fortschreitenden Evolutivzweig zu Menschen (als Personen und Gruppen) in ihren Kulturen.

7. Ideen ähnlicher Art sind nicht neu, ich arbeit sie nur in ihrem Grundgehalt heraus und entwickle einen systematischen Bezugszusammenhang; auch ergänze ich, wo dadurch nötig. Das ist leider nicht sehr häufig gemacht worden. Nur so ergibt sich die Möglichkeit, die verschiedenen Evolution zugleich in ihrer Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit zu begreifen. Wirklich innovativ scheine ich in der generativen Semiotik zu sein.

7.1. Denn das Bedeutungsproblem ist vielleicht das allerfolgenreichste ungelöste oder scheingelöste Problem. Für einen Naturwissenschaftler ist etwas verstanden, wenn er zeigt, wie es bewirkt wird und wirken kann; welchen Platz es in einem System von funktionalen Zusammenhängen findet. Wenn es auch noch anders als in den von der Naturwissenschaft untersuchten Zusammenhängen Wirkungen erzeugt und wie es vielleicht überhaupt, obwohl extrem unwahrscheinlich unter den von ihm gewählten Prämissen, zustandegekommen ist oder sein soll, interessiert diesen Wissenschaftler idR nicht. Sollen andere das klären, ist deren übliche Haltung, die freilich längst in eine Haltung von "vergesst es!" degeneriert ist.

7. 2. Die meisten Menschen finden sich aber fast andauernd in Situationen, in denen ihnen diese naturwissenschaftlichen Erklärungen überhaupt nicht weiterhelfen (Beispiele aus menschlichen Interaktionen, aus Umgang in und mit Stadt, Wohnung, Büchern, Medien etc.). Man braucht allen diesen Phänomenen nicht abzusprechen, dass sie "die grundlegenden Naturgesetze über Stoffe und Energie einhalten." Aber man muss auch sagen, alle Dinge der Natur und Kultur bedeuten uns etwas; und da fehlen naturwissenschatfliche Aufklärungen fast vollständig. Der einzige Anspruch, den ich sehe, liegt im Informationbegriff. Er ist nur unter extrem eingeschränkten Bedingungen (zB Kommunikationskanal) ein Stück weit brauchbar. Wir suchen diese Bedeutungen zu fassen und teilen sie in objektive und subjektive. Und das geht angesichts der oben in Frage gestellten Zweiteilung unserer Welt nicht auf.

7. 3. Früher hat man dafür den "Geist" erfunden. Ein Zauberwort ohne bestimmbaren Inhalt bzw. mit tausenden von mehrdeutigen Bestimmungsvorschlägen. Aber Wirkungen objektiv und Bedeutungen subjektiv sind beide geistig und nicht geistig. Sonntags- und Werktagswelt. Soll ich auch sagen, worauf es hinausläuft? Am Werktag objektiv, am Sonntag subjektiv? Glauben Sie, dass die Menschen das auf die Dauer aushalten werden?

7. 4. Aber wenn einerseits die Naturwissenschaftler mit den meisten Dingen menschlichen Alltags nichts anfangen können, diesen nur mit den technischen Dingen anreichern, welche diese Wissenschaften ermöglichen, anderseits aber eine Welt von Bedeutungen unverzichtbar die menschliche Lage kennzeichnet, so müssen diese beiden Perspektiven in ein Verhältnis gebracht werden, oder die Welt der Menschen bricht auseinander.

7. 5. "Normale" Semiotik spiegelt leider nur den Bruch. Da werden Zeichen verstanden als materielle Strukturen einerseits, die anderseits Bedeutungen "haben" (welche denn für wen), oder, noch schlimmer, denen Bedeutungen zugewiesen werden (von wem denn in welcher Weise und von wem in anderer?). Eine Semiotik, welche sich im Dilemma zwischen objektiven und subjektiven Bedeutungszuweisungen ebenfalls zerreisst, kann an der Spaltung der Wissenschaften und der Menschenbilder nichts ändern.

7. 6. Meiner Meinung nach handelt es sich bei diesem subjektiv-objektiv Dilemma um ein künstliches, durch bestimmten Voraus-Annahmen oder Setzungen überhaupt erst geschaffenes Problem. Es ist nicht zu lösen, sondern aufzulösen. In der Tat haben zweieinhalb Jahrtausende "Philosophie" das Problem nicht lösen können. Seine Auflösung muss aber aktiv betrieben werden, indem gezeigt wird, wie man ohne diese Setzungen mit dem Verständnis der Welt, der menschlichen Kondition besser zurechtkommen kann. Meine mich selbst überraschende Einsicht, wie leicht das mit einer generativen Semiotik geht, welche die Zweiheit der angeblich einen objektiven und der vielen subjektiven Welten durch die Ideen semiotiven Werdens ablöst. Oder erliege ich einer gründlichen Täuschung? Das kann nur die Durchführung erweisen.

8. Die beschriebenen Einsichten bringen mich in eine Zweifrontenlage. So gut viele Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind (und eingebaut werden können); manches ist unzulänglich und die Teilung in zwei Welten mit dem faktischen impliziten imperialen Anspruch der einen gegen die anderen unerträglich. Die Wissenschaften des Kulturellen würden gut tun, sich nicht abzusondern sondern Verfahren und Begriffe zu entwickeln, welche mit den Verursachungsvorstellungen der Wissenschaften von anderen Bereichen kompatibel sind, auch wenn vielleicht diese ihre Vorstellungen ändern müssen. Die Lösung liegt im realistischen Ernstnehmen allgemeiner Evolution. Beide Seiten müssen ihre Verursachungsvorstellungen revidieren. Man kann nicht der naturwissenschaftlichen eine beifügen wollen, die nur für gewisse Bereich gelten soll; ebensowenig lässt sich halten, die naturwissenschaftliche Vorstellung sei die allgemeingültige. Sie wird sich als ein (dyadisch) eingeschränkter Speziafall in nicht-evolutiver Sicht erweisen; ein Spezialfall von einer (triadischen) Vorstellung, welche evolutiv-generell gültig sein dürfte.

9. Im jetzigen Kontext muss ich auf Aueinandersetzungen mit anderen Autoren weitgehend verzichten, bzw. dies auf einige Hinweise beschränken. Im Interesse einer nachvollziehbaren Darstellung des Zusammenhangs stelle ich die semiotische Ökologie absichtlih fast "monomanisch" dar. Die Idee ist, Konfrontationen, genaue kritische Auseinandersetzungen mit Antipoden wie mit Verwandten später durchzuführen. Didaktisch, im Interesse der akzentuierteren Verständlichkeit kann ich freilich schwer ohne gewisse Abgrenzungen (gegen traditionelle Psychologie, Philosophie etc.) auskommen. Doch meine wichtigeren "Paten" oder virtuellen Dialogpartner (Götter, Halbgötter haben sie meine Mitarbeiter genannt) möchte ich zu ihren Ehren und zur Lektüreanregung nennen und gelegentlich beiziehen (hier in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens in meinem Werdegang):

1. Ostasiatische Literaten-Dichter-Maler-Philosophen-Mönche und Eremiten-Hofnarren, die mir ein dialogisches Welt- und Menschenbild und eine Einbetung der Menschen in die Welt anstelle der christlich-hellenistischen und Aufklärungs-Entgegensetzung und Dominanzthese erschlossen haben.

2. Robert Musil , der mich in die Psychologie "verführt" und in Essay und Roman Kulturpychologie vorgelebt hat.

3. Kurt Lewin, der mir das ökologische Denken in der Psychologie ermöglicht und mit der Idee der existentialen Genesereihen ein bedeutendes und so taugliches wie verbesserungsfähiges wissenschaftstheoretisches Fundament gegeben hat.

4. Jakob von Uexküll, der mir das ökologische Denken in der biotischen Welt in einer so gründlichen wie eleganten Weise konkretisiert hat, dass seine kulturelle Ausarbeitung leicht wurde.

5. Charles Sanders Peirce, der mich aus den Fängen traditioneller Metaphysik und Erkenntnistheorie fast völlig befreit und mir mit seiner triadischen Semiotik und neuen Kategorientafel die Mittel zur Durchführung evolutiver Genesenetze in die Hand gegeben hat.

6. Johann Gottfried Herder, der mit seinem realistischen Menschen- und Weltbild meine noch vage und fragmentarische Allansicht bestätigt, beträchtlich vertieft und auch geweitet und mich so aus einem latenten zu einem bekennenden Kulturpsychologen gemacht hat (weil ich an seinem Denken am gründlichsten lernen konnte, wie irreführend diese Entgegensetzung von Natur und Geist in Wirklichkeit ist, so dass ich jetzt dieser von den Menschen selbst gemachten Klemme entgehen kann).

7. John Dewey, der meine Erfahrung mit Peirce und Herder noch einmal bekräftigt und die ethischen und politischen Aspekte der menschlichen Kondition zeitgerecht für das 20. Jahrhundert und mit bemerkenswerter Differenziertheit in Theorie und Praxis durchdrungen hat.

- Damit seien aber die vielen weiteren virtuellen und rellen Frauen und Männer nicht vergessen, deren dialogische Beiträge zur Entwicklung des Ansatzes nicht aufgezählt werden können, aber ebenso unentbehrlich waren und sind, wie diejenigen dieser älteren "Helden".

8. Ich möchte aber gerne wenigstens einen der lebenden Dialogpartner hier nennen, nämlich Ernst Boesch, der rund 20 Jahre voraus einen vergleichbaren, doch weniger radikalen Weg aus der modernen Psychologie zur Kulturalität gegangen ist und dem ich starke Einsichten wie kräftige Ermutigung verdanke.

 

1.3. Ein paar Beispiele

1. Farbenökologie

- anhand des Diagramms aus früheren Vorlesungen

- Der Funktionskreis der Organbildung und Nutzung; die evolutive Weiterung vom instinktiven Erkennen aufgrund von Farbe bis zum kulturellen Beglücktwerden durch und der Chaotisierung der gegenwärtigen Umwelt durch Farbigkeit.

 

2. Musikökologie

- Verweis auf (Boesch 1993) Vom Ton der Geige.

- Vom Singen als Bewegtwerden und Mitbewegen über die Tonstufen und -leitern, Rhythmen und Formen zur Kombinatorik der Töne zur Verkörperung im Instrumentenbau und der Notenschrift menschlicher Musikkulturen.

 

3. Wohnpsychologie oder -ökologie

- die periodische und laufende Umgebungsgestaltung in der Kleinegruppe

- Der Funktionskreisbereich mit den Räumen und Dingen (im Vergleich zum sprachlichen)

- Die Verschachtelung der individuellen, Kleingruppen-, Grossgruppen-Prozesse und Strukturen

- Die Autonomie-Integrations-Reguation im Alltag

 

 

1.4 Einige Aspekte zum Markieren und Behalten:

1. Allemal sind Funktionskreise erkennbar.

2. Die Funktionskreise vieler / einiger Individuen durchlaufen ein verhältnismässig gemeinsames Milieu (ExtrA).

3. Es gibt (phylo)genetische Voraussetzungen und kulturelle Überformungen.

4. Geschichtlichkeit (eindeutiger Gang bisher und offener, aber restringierter Fortgang) und Kulturalität (erkennbar in den Diversifiktionen, wie nach einem freieren Mandelbrot-Prinzip) werden prozesshaft und strukturell greifbar gemacht.

5. Die Stellen der Diversifizierung (Variationseinführung) und der Promulgation und ihrer Restringierungen (bewertende Selektionen) werden eindeutig bei umweltbezogen handelnden Individuen aufgewiesen.

6. Ein Wechselspiel zwischen relativ beweglicheren und relativ fixierteren Instanzen wird evident.

7. Die Einfachheit der Prozess-Auffassung steht nicht im Widerspruch zur Komplexität der Erscheinungen.

8. Es kommt offenbar nicht auf den stofflich-energetischen Charakter der beteiligen Instanzen an; ein physikalistischer Reduktionsversuch leistet nichts, weil alle resultierenden Strukturen der Lebenserscheiungen physiko-chemisch extrem unwahrscheinliche sind.

9. Aber auch Kozepte wie Geist, Plan, Ordnung etc sind unbrauchbar bis irreführend; denn solche Traditionen können nicht geplant werden, weder von einer ausserirdischen Instanz noch von den Menschen selber.

10. Dennoch sind die kulturellen Traditionen offensichtlich "systematisch", voll von Regelmässigeit und mit Brüchen: eben Evolutionen.

11. Die Rolle der Menschen drin bleibt grossartig, und zwar jedes einzelnen Individuums; und zugleich werden sie "nur" Glieder von etwas; und daraus (nicht apriori) gewinnen die Menschen ihren Wert.

12. Wir brauchen geeigente Begriffe und Verfahren, die Ökosysteme zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären, damit umzugehen; ob als Teilnehmer oder als Beobachter und Berater.

Es liesse sich ebensogut ähnlich mit Beispielen wie Sprache, Schrift, Werkzeugen, Schiffsbau und -gebrauch, Kleidung, Bildende Künste, Literatur, Jugendbanden, Vereinen etc. etc. illustrieren

Es sieht aus, wie wenn eine der Stärken der semiotischen Ökologie, nämlich dass sie eine ganz einfache Begrifflichkeit ist, zu ihrer Schwäche erklärt werden könnte mit dem Argument: Erklärung von "allem" ist keine Erklärung; Pansemiotismus. Das ist aber kein wirklich ernstzunehmendes Argument; denn ebenso könnte dann die Phyik als Panenergismus, widerlegt werden, die Chemie als Panvalenzismus, die Religion als Pantheismus (in anderem als dem üblichen Sinn, nämlich alle Ursachen in einer Göttlichkeit zu vermuten, in einem einzelnen oder in eine Vielgötterhimmel), die Musik als Panaurismus etc. Und sind nicht unsere Wissenschaften panoptistisch (in einem fast unglaublichen Ausmass durch Verfahren des Sehens bestimmt)? Nur so kann man sich die enorme Rolle eines Objektbegriffs erklären; ein Ton etwa oder ein Geruch ist nicht ein Objekt, sondern klar eine Beziehung zwischen Menschen und Welt. Und warum sollte das beim Sehen anders sein? Doch es wirkt anders, weil wir feste Körper zu sehen meinen, während Töne oder Gerüche vergehen.

Die semiotische Ökologie ist eine Begrifflichkeit, welche die Entwicklung von Verfahren und die Gewinnung von Materialien zum Darstellen und zum Begreifen von Erscheinungen fördert oder ermöglicht wie: Lebewesen, insb. Menschen zusammen mit ihrer Welt im Wechselspiel des Wandels und der Kontinuität beider. Denn das ist die menschliche Kondition. Es wäre irreführend, solche Entitäten als solche, dh ohne Rückgriff auf ihr evolutives Werden und unter Einschluss ihrer Rahmenbedingungen begreifen zu wollen.

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