Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Handout at Conference Presentation 1995

Hat oder ist oder wird man Person? --

eine evolutive Person-Kultur-Konzeption in der semiotischen Ökologie

1995.08a

@Pers @CuPsy @SemEcoPro

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Beitrag zum Gemeinschaftsseminar der phil.-hist. Fakultät der Universität Bern in Münchenwiler zum Thema "Person, Persönlichkeit" am 8.-10. Juni 1995

© 1998 by Alfred Lang

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Vollständige Vortragsvorlage


1.Situierung einer Aufgabe: Könnten wir aus dem dualistischen Holzwege-Dschungel nicht vielleicht ausbrechen, um weniger voreingenommene Vorstellungen von Person/Persönlichkeit eher von allgemeinen Erfahrungen statt von Setzungen her zu entwickeln? (Unser enormes Detailwissen über Welt und Leben -- gültiges wie problematisches --, stand ja den Begründern unserer fundamentalen Denkmuster nicht zur Verfügung.)

1.1. Erwarten Sie nicht von einem empirisch orientierten aber ideengeschichtlich interessierten Psychologen, er könne Ihnen eine erhellende und praktikable Weise des Umgangs mit "Person und Persönlichkeit" erschliessen, welche über (psycho-)technischen Umgang mit Individuen wirklich hinausführt.

1.2. Denn die moderne positivistische Psychologie ist bis heute Kind einer Hoch-Zeit des dualistischen Weltbilds. Wie sich die Psychologie selbst von den anderen Wissenschaften absondert und in Natur- und Geisteswissenschaft aufspaltet, so isoliert sie auch ihren individualisierten "Gegenstand Mensch" aus seiner Umwelt und spaltet ihn dann gemäss ihre eigenen Denkgewohnheiten in Leib und Geist, Maschine und Programm/Programmierer entzwei.

1.3. Das dualistische Welt- und Menschbild seinerseits beruht auf metaphysischen Setzungen, die jeweils Aspekte eines tiefen Bruchs in der Welt markieren. Daran hat man sich sehr gewöhnt. Gibt es aber gute Gründe für die Annahme eines solchen Bruchs? Gibt es nicht bessere Gründe für ein Menschenbild, in dem Sachzwänge und Verantwortlichkeit ein- und derselben Welt so essentieller wie relativer Freiheit angehören?

1.4. Unsere Person- und Freiheitsbegriffe sind parallel zu unseren Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffen Ausflüsse dieser Spaltungen; ich kenne keine tauglichen Brückenschläge. Auch die aktuellen Versuche, die Person linguistisch auf die Erzählung ihrer Geschichten zu reduzieren unterliegt solchen Setzungen und ist mE nicht weniger problematisch als ihre angestrebte neurobiologistisch-materiale Reduktion.

1.5. So möchte ich lieber eine "aufsteigende" Auffassung davon entwickeln helfen, worauf Begriffe wie Person und Persönlichkeit und ihre Verwandten möglicherweise verweisen; besser vielleicht, statt der nahegelegten Substantialiserung und analog zu Humanität von Kulturalität und Personalitätals genuine Charaktere der menschlichen Kondition zu sprechen. 

2.Methodisch könnten wir den Anspruch eines angeblich ausgezeichneten und allgemeinen Erkenntnisstandpunktes (epistemisches Subjekt) aufgeben und uns auf kontrolliertes Darstellen und Vergleichen von unseren Aspekte von Welt von verschiedenen Blickpunkten aus beschränken, wissend, dass diese Darstellungen normalerweise zu Teilen der Welt werden (können). Verstehen aus Vergleichen reicht aus; entgeht zwar nicht dem Bewerten, wohl aber schwer korrigierbaren Präsuppositionen.

 

3. Als Grundannahme drängt sich die Meinung auf, die Welt, jedenfalls die uns relevante planetarische Welt, sei ein System in offener Entwicklung (Heraklit, Herder). Mit einigen "Gesetzlichkeiten" oder nomothetischen Eindeutigkeiten (physiko-chemische der sog. Natur; formale der Symbolkonstruktion) sei sehr sicher zu rechnen, andere (biologische, kulturelle: aus dem Leben und der Symbolkonstruktion) emergierten jedoch gerade erst und eben aus ihrer Entwicklung und könnten somit nie eindeutig gewiss sein. Die Herausbildung und Erhaltung von immer neuen Strukturen mit ihren Funktionsweisen in konsistenten Strängen in einem gemeinsamen Milieu könne mithin nur geschichtlich verstanden werden. In der Zeit von jeder Gegenwart aus rückwärts zu rekonstruieren, nach vorne mit einer gewissen Konsistenz nicht beliebig, aber offen. Menschen im besonderen seien nicht nur Produkte, sondern auch mehr als andere Instanzen Mit-Produzenten geschichtlicher Stränge, immer ausgeprägter auch der sog. Natur.

 

4. Aber warum sollten Menschen nicht, aus vergleichenden Perspektiven, betrachtet werden wie andere Strukturbildungen und ihre Wirkungen auch? Das allenfalls besondere an ihnen müsste dann nicht per Setzung definiert, sondern aus Vergleichsuntersuchungen inferiert und im Zusammenhang mit dem revelanten Umfeld, also ökologisch begriffen werden. Strukturbildungen ergeben sich in dialogisch-evolutiven Wechselspielen; dies entgeht dem Dilemma von Notwendigkeit und Zufall, wenn es Variation mit "wertender" Selektion ergänzt.

 

5. Anstelle der unrealistischen Gegenübersetzung (prinzipiell freier) Subjekte und einer objektiven Welt notwendigen und zufälligen Charakters lässt sich eine evolutiven Sicht (auch die "Natur" hat Geschichte) durchführen, wenn man die dyadischen Verursachungs- (Kausalität für die Natur: wenn A dann C) und Interpretationsvorstellungen (Semantik für den Geist: A bedeutet C) durch eine triadische Konzeption generativer Reihen und Netze (A im Verein mit B generiert oder aktualisiert C) ersetzt. Ich sehe eine solche Möglichkeit in der Semiotik von Charles Peirce angelegt. Nur triadische Relationen können Evolutives fassen; dyadische drehen sich bestenfalls im Kreis; mit Zufall wandeln sie beliebig. Die Idee einersemiotiven Welt könnte den Gegensatz der objektiven und subjektiven Welten ablösen.

 

6. Die semiotische Ökologie untersucht Lebewesen als werdende Strukturen in ihrer Umwelt als evolvierendes dynamisches System und zeigt dass die gleiche Konstruktion der Semiose sowohl die Strukturbildungender oder in denLebenwesen wie auch die Strukturbildungen in ihrer Umwelt zu beschreiben vermag und die für echte Entwicklung unabdingbaren Funktionen der Variation und der Selektion zu leisten vermag. Semiotisch lassen sich Prozesse und Strukturen in den Lebewesen (brain-mind; IntrA) und Vorgänge und Zustände in der Umwelt (insbesondere soziale und kulturelle Momente; ExtrA) und die hinein- (IntrO) und hinausgehenden Wirkungen (ExtrO) auf gleiche Weise begreifen..

 

7. Aus den kosmisch-mineralischen Voraussetzungen emergierend lassen sich drei evolutive Bereiche unterscheiden: der biotische mit der Evolution der Arten und den damit einhergehenden Veränderungen der Planetenoberfläche; der individuelle als die integrierende Sammlung und Nutzung von Erfahrungen im Lauf der Lebensgeschichte in Organismem mit zentralen Nervensystemen; der kulturelle als die einer Lebensgemeinschaft eigene akkumulierende und über Generationen tradierten Lebensformen, die sich in äusseren und inneren Strukturen verkörpern. Strukturen und Prozess lassen sich in allen drei Bereichen mit der gleichen semiotischen Begrifflichkeit beschreiben; es unterscheiden sich bloss die Träger von variativen und selektiven Funktionen und die Art und Weisen ihres raum-zeitlichen Zusammenwirkens. Die individuellen und die kulturellen Evolutionen setzen biotische voraus und können sie überformen; individuelle sind Voraussetzung zu kulturellen und gewinnt gerade durch sie so mächtig an Gehalt und Kraft, dass beim Menschen die kulturellen (gemeinsamen) Errungenschaften zu wesentlichen Bedingungen der individuellen (personalen) Potentiale geworden sind.

 

8. Hat man einmal eingesehen, dass alle organismischen Strukturen und was auf ihnen aufbaut wie die kulturellen, ob mente- oder artefaktisch ("every thought ist a sign [...] life is a train of thoughts [...] man is a sign", Peirce 1868), als "aufbewahrte" Zeichencharaktere zu begreifen sind, mit einem mehr oder weniger spezifischen Wirkungspotential, das sich in geeigneten Kontexten später oder anderswo -- und nur in einem geeigneten Kontext -- entfalten kann, so ist auch der Gedanke naheliegend, dass es auf die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Zeichenstrukturen ankommt, was für Wirkungen sie entfalten können. Affinitätsgrade zwischen Zeichenstrukturen sind natürlicherweise eher hoch, wenn sie ein und demselben evolutiven Strom oder wenigstens in sich durchmischenden Traditionen entstanden sind. Auf diese Weise gewinnen relative Nähe und Kontingenz im Spielraum von Zeichenhaftem eine beträchtlich stärkere Rolle, insofern sich Zufall mit Präferenz oder Selektivität verbündet.

 

9. Das Wechselspiel der kulturellen und individuellen Entwicklungen mit ihren unterschiedlichen Zeithorizonten und dem ungemein reichhaltigen Inventar an unterschiedlich affinen IntrA- und ExtrA-Strukturen und Internalisierungs- und Externalisierungsverfahren (Wahrnehmen und Agieren) macht die im eigentlichen Sinn menschliche Kondition aus. Generell wird die Beweglichkeit und der innere Zusammenhang der IntrA-Strukturen im Durchschnitt grösser sein; die ExtrA-Strukturen, besonders der überdauernden, werden verlässlicher sein und, wie die Gene, leichter duplizierbar u.v.a.m. Insgesamt werden die Innenstrukturen von zusammenlebenden Individuen untereinander und mit den Haupteigenschaften ihrer gemeinsamen kulturllen Umwelt tendenziell hoch affin sein.

 

10. Biotische Arten und kulturelle Traditionen in bestimmten Stadien sind durch ihnen mehr oder weniger eigene "Merk- und Wirkweisen" (von Uexküll 1906) gekennzeichnet, dh sie leben und gedeihen zwar in einer allengemeinsamen Welt, aber in ihrer je weitgehend eigenen Umwelt. Diese Lebewesen- bzw. Mensch-Umwelt- oder ökologischen Systeme enthalten stabilisierende Regulative und innovative Potentiale; die wichtigsten Änderungsimpulse stammen freilich aus Querwirkungen aus geringer affinen Nachbarsystemen. Grundsätzlich sind solche Systeme auf Widerständigkeit gegen ihre Umgebungen angelegt; diese erreichen sie durch relative Anpassung. Während bei biotischen Ökosystemen von der Welt nur gerade so viel und jenes in den Organismen und ihrer perzeptiven und aktionalen Ausstattung zur Darstellung zu kommen scheint, wie für ihre Fortpflanzung in einem Bereich von geeigneten Umgebungen nötig ist, haben Menschen ihre aktive Neugier derart entfaltet, dass sie die Umgebungen ihren Lebensmöglichkeiten und -präferenzen anzupassen lernten und damit der Spezies den Anpassungsdruck mildern und freilich auch von ihrer Widerständigkeit preisgeben.

 

11. Ökologische Systemesind prinzipiell asymmetrisch: in einem grösseren und mächtigeren Rahmensystem bilden sich Teilsysteme aus, die partielle aber relevante "Kenntnisse" über die Rahmensysteme haben und sich deswegen darin erhalten und mit relativer Freiheit bewegen können. Je komplexer die organismischen und kulturalen Individual- und Kollektivsysteme werden, desto geringer abhängig werden sie von ihren unmittelbaren Umgebungsbedingungen; oder anders gesagt, desto mehr gewinnen sie Freiheit von existentiellen Zwängen. Während tierliche Instinkte artspezifisch ungeheuer effektive Bewältigungen des normalen Laufs der Welt ermöglichen, die aber in neuen Verhältnissen versagen, müssen Menschen vermehrt individuell -- freilich die Erfahrungen der kulturellen Tradition nutzend -- lernen, übliche und neue Verhältnisse glücklich zu antizipieren und darin geeignet fortzukommen. In der Vorbereitung für solche Situationen gewinnen sie Freiheiten zu "verbesserten" Lebensformen, vorteilsträchtigen oder humaneren. Insofern (sub-)kulturelle Gruppen solche eigenen Regulations- oder Steuersysteme herausbilden und benutzen, können sie von ihnen selbst und von anderen als (kollektiv-)personhaft begriffen werden.

 

12. Solche partiellen Sub- oder Sekundärsysteme scheinen sich auch in komplexen Zentralnervensystemen auszubilden und dies macht diese Lebewesen individuell oder kollektiv personhaft. Stellt man sich vor, dass von vielen aber nicht allen lebenswichtigen Vorgängen, die als Spuren und als Grundlage seines Fortbestehens im Gedächtnis eines Individuums zur Darstellung kommen partielle "Auszüge" in einem sekundären aber im ganzen System relativ integrierten "Abteil" dargestellt werden, so haben wir eine Struktur, die bei einem Kollektiv etwa dem Stab und der Kaderstruktur eines grossen Unternehmens oder einer Armee verglichen werden kann. Alle Details zu kennen, würde Entscheidungen und sinnvolle Anweisungen geradezu verunmöglichen; viel und wesentliches Kennen und in Planspielen u.dgl. ausprobieren verleiht aber dem Ganzen Vorteile, welche die biotische wie die kulturellen Evolutionen sehr wohl errungen haben. So verhält sich Personalität zu Kulturalität wie Kulturalität zu Naturalität -- als steuerfähiges Sekundärsystem. Solche Strukturen bestimmen auf weite Sicht ihre eigene Geschichte mit. Menschen sind ihre eigenen Schöpfer und Geschöpfe (Herder 1774, 1797).

 

13. Eine dialogisch-evolutive Auffassung von Person scheint mit den Voraussetzungen der abendländischenRechtsentwicklung in Kollision, insofern diese theoretisch auf der unabdingbar gesetzten Personhaftigkeit des Individuums beruht, praktisch freilich ständig mit ihren unsicheren Rändern bei den realen Individuen "kämpft" und vor allem den Problemen kollektiven Existierens und Handelns kaum gerecht wird.

 

14. Man hat und ist nicht, sondern wird wohl eher lebenslang in unterschiedlicher Weise personhaft.

14.1. Wer oder was könnte denn so etwas wie Person haben? Und wer oder was könnte dieses Person habende haben ... ? (Regressproblem)

14.2. Oder hat man Person, wie man sich irgendetwas zulegt oder zugelegt bekommt: wie Dinge, Kleider, Immobilien, Unternehmen, irgendwelche Einrichtungen? Das "eigene Ich" als die pervasivste Institution der Industriegesellschaften. Als schöneres Kompensativ unserer Versklavung durch die Institutionen der Arbeitswelt.

14.3. Wäre man Person: nach welchen Kriterien denn? Nach biologischen als Angehöriger der Spezies? Nach kulturellen durch Sprachkompetenz (in welcher Sprache, mit welchem Komptenzgrad)? Oder wie sonst abzugrenzen?

14.4. Personhaftwerden ist ein nicht abschliessbarer und nicht zwingend einheitlicher Prozess. Einfliessende und ausfliessende Phasen und Rekursionen setzen ein sozio-kulturelles Feld voraus, von dem Personhaftes ein auf Individuen oder Gruppen oder Institutionen orientierter Teil ist und stets nur relativ und in verschiedenster, stets kontextbestimmter Weise heraussteht oder in Semionen-Komplexen (Texten, einschliesslich Lebewesen) als Potential "wohnt" und aktual zu Wirkungen kommt.

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