Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Handout at Conference Presentation 1995

... DIE SICH IHRE UMWELT SELBER SCHAFFEN ...

1994.05

@CuPsy @SciHist

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Beitrag zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg, September 1994

© 1998 by Alfred Lang

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Beschreibung einer konkreten menschlichen Lebenslage und ihrer Bedingungtheiten mit Erwägungen zur Frage, warum vielleicht wissenschaftliche Psychologie so irrelevant ist; allgemeine Anmerkungen und Kernaussagen darüber, wie zum Beispiel ein J.G. Herder vor zweihundert Jahren die Psychologie als strategisch entscheidende Wissenschaft begreifen konnte; schliesslich ein vorläufiges Fazit.


Vorbemerkung:Dieses am Kongress als Handout verteilte Papier ist das Ergebnis eines Kompromisses: ich hatte zum Kongress ein Positionsreferat (45 Min.) unter dem Titel: DIE SICH IHRE UMWELT SELBER SCHAFFEN … -- HISTORISCHE UND AKTUELLE ANSÄTZE EINER KULTURBEZOGENEN PSYCHOLOGIE angemeldet. Der Beitrag war abgelehnt worden. Schriftliche und mündliche Kontakte mit dem Verantwortlichen führten zur Annahme des Beitrags als Forschungsreferat (20 Min.) und zur mündlichen Präsentation der Hauptpunkte des Handouts. Weil es sich um einen, wie mir scheint, bezeichnenden wissenschaftspolitischen Vorgang handelt, füge ich hier die Ablehnungsbegründung und meine Argumentation in Form der wesentlichen Passagen aus meiner Korrepondenz bei. Am Schluss folgen Fragmente aus und Disposition einer ersten Fassung des aufgezwungenen Forschungsreferats. A.L.


 

I. Mein gegenwärtiges Handeln jetzt und hier als ein Beispiel -- im Licht des Problems der weitgehenden Irrelevanz von Psychologie

1. Ich weiss nicht, ob Sie mein Verständnis der Wissenschaft Psychologe teilen können. Ich denke sie sollte Antwortversuche auf die Frage erbringen, warum Menschen in ihrer Welt gerade so handeln oder agieren, wie sie es tun. Und natürlich wissenschaftliche Antwortversuche, dh wirklichkeitsbezogen-abstrahierende, das heisst konzeptuell stringente und empirisch kontrollierte. Ich bezweifle, dass die moderne wissenschaftliche Psychologie das erbringt.

2. Als ein Beispiel dafür, wie mir das,wofür die Wissenschaft Psychologie heute gilt, bei solchen Versuchen nicht recht weiterhelfen kann, will ich meine gegenwärtige Lage untersuchen. Warum gebe ich hier einen Vortrag gerade so wie ich es tue?

3. Zunächst zeigt das Beispiel bei näherer Prüfung bald einmal, dass ein wirklichkeitsbezogener Antwortversuch darauf hinauslaufen muss, die Warum-Frage umzusetzen in eine Fragevom Typus, wie ist es gekommen oder wie kommt es, dass ...

4. Und dass eine wirklichkeitsbezogen-abstrahierende Antwort einbeziehen muss, was anstelle dieser tatsächlichen Wirklichkeit -- dass ich hier und jetzt vor Ihnen gerade so spreche wie ich es tue -- auch eine denkbare Möglichkeit sein könnte. Weil ein anderes anstelle der faktischen Wirklichkeit vielleicht ebensogut der Fall hätte werden können. Nämlich beispielsweise, dass ich hier jetzt nicht aufträte; oder dass ich zwar aufträte, aber ganz anders mit Ihnen in Verbindung träte: zB durch Schweigen, mit mimetischen oder bildnerischen Mitteln, begleitet von Mitarbeitern, in computerisierter Direktverbindung, singend, oder auch nur in andersartigen sprachlichen Formen, mit anderen Aussagen, verständlicher oder unverständlicher, usw.

5. "Wirklichkeit ist was wirkt", sagte Kurt Lewin; ich will mit Robert Musil beifügen: und was wirken kann. Orientiere ich mich an der Wirklichkeit, so werde ich eine Rekonstruktion jener Bedingungen machen müssen, welche aus allen Möglichkeiten gerade zu der einen geführt haben, welche Wirklichkeit geworden ist. Schafft nicht Handeln ganz wesentliche Teile dieser Bedingungen und mithin der Wirklichkeit?

6. Es ist leicht zu begreifen, dass die Herstellung von Wirklichkeit, aus welchen Bedingungen immer, stets nur in einer Gegenwart geschehen kann. Denn in der ganzen Vergangenheit ist ja in jedem ihrer Augenblicke damals gerade eine der vielen Möglichkeiten schon wirklich geworden. Nachträglich ist daran nichts mehr zu ändern ausser in einer neuen Gegenwart; und erst in der Zukunft wird sich erweisen, welche der vielen möglichen Wirkungen unter den dann gerade wirkenden Bedingungen tatsächlich bestimmen wird, zu welcher Wirklichkeit es dann kommt.

7. Das passiert immer und ausschliesslich nur in jeder Gegenwart. Von der Zukunft her kann das Vergangene nicht geändert werden (bzw. nur bei Orwell "1984" und angeblich auch in real existierenden politischen Systemen). Und aus der Vergangenheit auch die Zukunft nicht direkt (sehr wohl aber indirekt). Auch wenn wir akzeptieren, dass unter den unendlich vielen Möglichkeiten, die ein Sachverhalt unter Beteiligung von Lebewesen, ins besondere Menschen, prinzipiell realisieren kann, nur ein ganz kleiner Teil unter den in der Vergangenheit bis zur Gegenwart zustandegekommenen Bedingungen nun auch tatsächlich überhaupt in die Lage oder beachtenswerte Wahrscheinlichkeit kommt, zur tatsächlichen Wirklichkeit zu werden. Also, von aussen her betrachtet: dafür, was in späteren Gegenwarten wirklich werden kann, spielen die früher vergangenen Gegenwarten schon eine Rolle, freilich eine indirekte, nämlich über eine Kette von Wirklichkeiten, die stets nur in ihrer Gegenwart gewirkt haben. Genau das impliziert freilich eine Perspektive der Freiheit der menschlichen Kondition, ohne dass die Vorstellung, alles Wirkliche gehe aus anderem Wirklichen hervor, aufgegeben werden muss.

8. Diese Konzeptualisierung der Wirklichkeit und ihrer Wirkungsweise nennen wir eine geschichtliche oder allgemein eine evolutive, weil in ihr das Spätere aus dem Früheren hervorgehend begriffen wird. Es scheint angemessen, die gesamten Lebenserscheinungen und alles, was darauf aufbaut, so zu begreifen; also auch das Werden von Personen und deren Differenzierung wie ebenso die Differenzierung und den Wandel von menschlicher Kultur. In der menschlichen Kondition scheinen unter allen aufzeigbaren Bedingungen das menschliche Handeln oder Agieren, das eigene und das von andern, wohl die ausschlaggebenden.

9. Das soll mein Beispiel illustrieren, wie immer bloss andeutungsweise. An anderer Stelle habe ich mit der Semiotischen Ökologie eine Skizze eines theoretischen Entwurfs vorgelegt, der geeignet scheint, solche Wirkungsketten von nicht notwendigen, wohl aber hinreichende Wirkungszusammenhängen auf den Begriff zu bringen (vgl. Lang, Alfred (1993) Non-Cartesian artefacts in dwelling activities -- steps towards a semiotic ecology. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 52 (2) 138-147.

9.1. Ohne eine Geschichte der Herausbildung von sozialen und symbolisierenden Lebewesen, welche kulturelle und insbesondere wissenschaftliche Traditionen generiert haben, darunter diejenige einer Psychologie, wäre mein Vortrag hier nicht möglich. Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, ihre Kongresstradition und jene bestimmte Weise psychologischen Denkens und Forschens, welche das späte 20 Jahrhundert bestimmt -- die mich so unglücklich stimmt -- gehören zu den unleugbaren Voraussetzungen unserer gegenwärtigen Wirklichkeit. Denn das alles könnte ebenso gut anders sein. Es ist weder naturgegeben noch in irgendeiner Weise notwendig so. Aber es ist bestimmende Wirklichkeit, weil abertausende von Menschen, Psychologen und andere, in abertausenden von einzelnen Akten es gerade so herbeigeführt haben; dergestalt, dass abertausende von ihnen es gerade so aufgenommen, daran festgehalten oder es abgewandelt, und es gerade so und nicht anders weitergeführt haben. Wir sprechen allgemein davon als kulturelle Traditionen, aufgebaut aus und in so vielen individuellen Entwicklungen und zwischenmenschlichen Akten, und getragen durch ein "Gewebe" von Verkörperungen in Symbolsystemen von Sprache und Schrift über Forschungseinrichtungen und -bräuchen bis hin zu Institutionen wie Wissenschaft, Universität, Kongress etc. Das alles ist in keiner Weise ursprünglich gegeben, sondern gemacht, geschaffen, selbstgeneriert, im wesentlichen durch menschliches Handeln.

9.2. Dazu kommen eine Reihe von durch menschliches Handeln getragenen Schritten, die näher an die konkrete Situation hier und jetzt heranführen: die Aufforderung der DGP zu Kongressbeiträgen; mein Entschluss, die Position einer kulturbezogenen Psychologie in historischen und aktuellen Denkansätzen geltend zu machen (was setzt ein solches Entschluss nicht alles voraus!); die Entscheidung des Programmkomitees, aus was für Gründen immer, so etwas sei nicht erwünscht, etc. etc. (vgl. ... die sich ihre Umwelt selber schaffen -- historische und aktuelle Ansätze einer kulturbezogenen Psychologie. (Abstract eines Positionsreferats) Pp. 418-419, Abstractband für den 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pychologie in Hamburg. Hamburg, Psychologisches Institut der Universität, 1994).

10. Antworten auf die Frage, warum Menschen gerade so handeln wie sie handeln, sollten sich also wohl mit solchen "Engführungen" in der Zeit auf die jeweilige Gegenwart von Handlungssituationen hin befassen, welche vom überhaupt Möglichen zum faktisch Möglichen und dann zur schliesslichen Determination oder Selektion in der Gegenwart gerade jener Wirklichkeit führen, welche eine ganz bestimmte unter allen noch möglichen Zukünften zur einzigen Vergangenheit macht? Nun ja, sie lassen sich nicht leicht aufzählen. In der Psychologie und verwandten Traditionen hat man sie in Sammelbegriffen etwa als Milieu oder Umwelt zwischen und als psychische Organisation innerhalb der Menschen zu fassen versucht und in vielerlei Manifestationen beobachtend zu beschreiben und in Form von unabhängigen Variablen von Experimenten, als Stimuli oder Situationen herzustellen versucht. Letztere, beispielsweise, sind natürlich auch Handlungsergebnisse. Drehen sich die forschenden Psychologen nicht im Kreis, wenn sie sie ungefragt für gegeben setzen? Und dürfen sie ihre Versuchsperson, ihre "Subjekt", einfach als gegeben setzen? Ist dieses denn nicht auch ein Ergebnis jener historischen Entwicklungen in einer bestimmten kulturellen Umwelt in einer bestimmten historischen Lage? Und auch die Formen, unter denen die Psychologen ihre Versuchspersonen "reagieren" lassen, sind selbstredend Handlungsergebnisse.

11. Es scheint mir aus allem, was ich von der menschlichen Kondition verstehe, hervorzugehen, dass es in erster Linie die Wirkungen menschlichen Handelns sind, welche die Bedingungen menschlichen Handelns darstellen. Beschäftigen sich die Psychologen des 20. Jahrhunderts mit den Wirkungen des menschlichen Handelns in systematischer Weise?

12. Ist Psychologie unter allen Wissenschaften deswegen so weitgehend irrelevant, weil sie diesen Umstand in ihren Konzeptualisierungen und in ihrer Methodik so weitgehend missachtet? Ist sie deshalb praktisch nur für Psychologen selber von Interesse? Und sind diese deshalb selber in wachsender Zahl zunehmend unglücklich über das, was ihr Fach ihnen bietet und von ihnen verlangt?

13. Ich habe nicht behauptet, die Tatsachen der Kulturalität und der Historizität der menschlichen Kondition fänden in der modernen Psychologie gar keine Beachtung; ich sehe sehr wohl Dutzende, vielleicht sogar hunderte von verschiedenartigen Versuchen, solches in dieser Wissenschaft zur Geltung zu bringen. Ich behaupte aber, dass eine systematische Berücksichtigung dieser Umstände in Begrifflichkeit und Methodik dieses Faches fehle.

14. Die Psychologie könnte, sollte, müsste eigentlich in der heutigen Weltlage von allen Wissenschaften die meistgefragte und strategisch bedeutendste sein. Denn es ist doch so, dass menschliches Handeln nicht nur all die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation hervorgebracht, sondern auch menschliches und anderes Leben an den Rand des Risikos seiner Fortexistenz geführt hat. Und dass nichts anderes als menschliches Handeln auch die einzige Chance bietet, diesen "Fortschritt" vielleicht zu vermeiden.

15. Das haben einige unserer Vorläufer, die wir seltsamerweise nicht zu den Grundbeständen der Geschichte unserer Disiziplin zählen, sehr wohl gewusst. Ich berichte Ihnen über einen, der vor einem Monat 250 alt geworden wäre und der seit etwa 1770 eine Sicht der menschlichen Kondition entwickelt und aufgeschrieben hat, welche mir in den gut zwei Jahren, seit ich mich mit ihr befasse, zum Standard geworden ist, an dem ich alle anderen, "moderneren" Denkweisen über Menschen in ihrer Umwelt messe: Johan Gottfried Herder. Und ich muss ihnen gestehen, dass ich Herders Sicht von der menschlichen Lage von allen mir bekannten für die kompletteste halte; in mancher Hinsicht ist keine andere vergleichbar kühn und trefflich.

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II. J.G. HERDER (1744-1803) -- ein kleiner Versuch, sein Denken über Menschen in der Welt in wenige Sätze zu fassen

Zwei Vorbemerkungen zur Herders Voraussetzungen und ein Kommentar zu meinem Vorgehen:

a) betr. die Weltweisheitslage im späteren 18. Jh.

Die traditionelle Vorstellung, die Welt, wie sie sei, sei von Gott eingerichtet und gewissermassen von ihm garantiert, einschliesslich vielleicht ihrer problematischen Seiten, kam mit der Renaissance immer mehr in Schwierigkeiten: mit den zunehmenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse erschien Gott immer deutlicher als ein Gebundener seiner eigenen Gesetze. Um selber "allmächtig" zu sein, musste er paradoxerweise seine "eigenen" Naturgesetze brechen können; und um Menschen Freiheit zu "gewähren", musste er ebenfalls deren "Biegen" seiner Naturgesetze durch Technik und deren Brechen seiner Gottesgesetze zulassen (Villem Flusser). Ein tolles Dilemma! Was gab es für Alternativen für das Verständnis von Natur und Menschen, und wie konnten sie Geltung beanspruchen?

Die gesamte Welt läuft nach notwendigen Naturgesetzen -- unangenehm für die Menschen und ihr Freiheitsstreben.

Die Welt einschliesslich der Menschen unterliegen dem Zufall -- ebenso unangenehm für die Verlässlichkeit; und Freiheit als Zufall? -- eine Farce.

Die Gelehrten der Renaissance und der Aufklärung entschieden sich zunächst für die erste Lösung (spätere schmuggelten die zweite dann auch hinein) und versprachen aber dennoch den Menschen Freiheit und Würde -- ein paradoxer, perfider Vorschlag! Auch die Psychologen des 19. und 20. Jh. sind dessen Opfer. Ungeachtet aller Beteuerungen zu einem Gegenteil, sei es zum Materialismus, sei es zum Mentalismus, existiert Psychologie nach wie vor aufgrund der damit angelegten Dualismen. Und trifft keine Anstalten, diesen Bruch zu übersteigen.

Eine dritte Sicht wurde im Laufe des 18. Jh. von Gelehrten wie Ferguson, Condillac, Condorcet und manchen andern in überwiegend fragmentarischen Einsichten entwickelt und von Herder in genialer Weise in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Bildung der Menschheit in eine zusammenhängende kosmologisch-anthropologische Sicht integriert: die Welt als eine werdende, in nach vorne offener Evolution, die Menschen als besondere Beiträger dazu. Man übersehe nicht, dass Herder durch und durch als ein Erfahrungswissenschaftler, als denkender Beobachter operiert. Es handelt sich,wie Klaus Meyer-Abich (Herders Naturphilosophie in der Umweltkrise. Vortrag an einem Herder-Symposium in Wuppertal, 30.11.94.) geltend macht, um den ersten umfassend formulierten wirklich alterntiven Weltentwurf seit Platos Timäus.

b) betr. Herders Ausdrucksweise in seiner Zeit

Man kann Herder in seinem immens vielseitigen Werk wie anderen Gelehrten auch leicht Inkonsistenen der Ausdrucksweise nachweisen. Ich erinnere daran, dass Goethes Faust in mancher Hinsicht ein Portät seines Freundes Herder, dieses letzten grossen Poly-Math-Histor-Poeten ist. Es wäre aber unfair, Herders Lebenslage und die dadurch manchmal gefordeten Redeweisen seiner Zeit und seines Umfeldes zu missachten und auch sein Amt als lutherischer Bischof nicht zu berücksichtigen. Wiederholt zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten äussert er sich jedoch klar genug, in Publikationen und erst recht in Briefen, auch wenn er manches es an anderer Stelle etwas verschleiert:

er findet die Idee eines persönlichen Gottes unbrauchbar;

ebenso die Idee einer unsterblichen Seele, welche sich vorübergehend mit dem Körper verbindet;

er sieht keinen Grund, irgendeine Form von Transzendenz zu fordern, solange sich die Welt und die Menschen aus immanenten Prinzipien verstehen lassen.

Ich werde mir also erlauben, Herder extensiv zu lesen. Damit meine ich jene Lesart, die seine kühnsten Gedanken zu einem Ganzen, mutmasslich in seinem Sinn, zusammenstellt (das bleibt natürlich These, da er jenes kleine umfassende Buch über sein System nicht geschrieben hat).

 

Die nachstehenden Sätze sind in der Absicht eines konzisen Gesamtbildes meine Formulierungen unter Verwendung Herder'scher Ausdrücke. Sie lassen sich grundsätzlich mit Herder-Texten parallelisieren und zeigen dann erst den ungeheuren Reichtum seines integrativen Denkens, seine klugen Interpretation des gesamten damals verfügbaren Wissen und seine scharfen Beobachtungen der psycho-sozio-kulturellen Kondition. Unverzichtbar zum Verständnis wären eigentlich auch die Einbettung Herderschen Denkens in den Aufklärungstraditionen des 17./18. Jh. und in deren kritischer Reflexion sowie die Kontrastierung seines evolutiven Systems mit dem statisch-zeitlosen von Kant und dem daraufhin sich bildenden deutschen Idealismus und später dem materialistischen Positivismus des wissenschaftlich-technischen Zeitalters.

1. Die Welt einschliesslich der Menschen muss als etwas in Entwicklung Begriffenes verstanden werden.

2. Auch wenn ein Göttliches sie eingerichtet haben mag, ist unübersehbar, dass ihr Verlauf nicht vorgeplant, sondern offen angelegt ist, dergestallt, dass es Gott sozusagen selber interessiert zu sehen, wie es weitergehen wird.

3. Die grosse Kette der Wesen (Pope) ist von den mineralischen zu den vegetabilen zu den animalischen zu den humanen Formen unverkennbar auf Stufen von zunehmender Komplexität angelegt, allerdings nicht simpel linear auf Fortschritt.

3.1. Natürlich fehlt Herder wie allen vor Darwin eine brauchbare Vorstellung von Bioevolution; doch ist eigentlich kein Zweifel, dass er die Menschen aus den höheren Tieren hervorgehen lässt und sie demnach als evolutive Emergenz denkt. Ebenso fehlt ihm eine funktionelle Anatomie, welche die intrahumanen Prozesse adäquater einordnen helfen. So kann er tollkühn behaupten -- mir scheint, abgesehen von auch strukturellen Errungenschaften wie dem Sprachhirn, eigentlich zu recht --, es brauche für den Menschen keine besondere höhere und völlig neuartige Ausstattung (zB mit exklusiv menschlicher Vernunft, etwa wie sie Kant postulierte), sondern bloss eine neue Organisation dessen, was auch komplexeren Tieren schon eigen ist.

4. Was Menschen auszeichnet, ohne sie der Welt als einer ganz anderen zu entheben, ist eine emergente Neu-Organisation jener Ausstattung, die "der Mensch als Tier schon hat". Ihr sichtbarster Ausdruck ist die Sprache und die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeug und damit eine Organisation des Zusammenlebens, welche als eine kulturelle die instinktgetragene Weise überformt . Die Grundlage dieser Neu-Organisation behandelt Herder in den beiden Konzepten der Besonnenheit und der Humanität.

4.1. Besonnenheit (Reflexion) entspringt dem Umstand, dass die Menschen im Vergleich zu den höheren Tieren so komplex geworden sind, dass die artspezifische Eingebundenheit ihres Reagierens auf die je spezifischen Lebenssituationen (also das Instinktverhalten) zu auseinanderstrebenden, ja konfligierenden Akten führen müsste. Dem kann durch innere und äussere Symbolisierung, durch Versammeln, Vergleichen, abstandnehmendes Bewerten und besonnenes Auswählen der handlungsleitenden Impulse und des Wissens über die Welt begegnet werden. Damit wird der Mensch zum selbst-reflexiven Wesen.

4.2. Humanität ist Herder ein Rahmenbegriff für die Bewertung besonnenen Agierens. Und zwar eine bewusst vage bleibende Vorstellung dessen, was die "freigelassenen" Menschen auszeichnet und ihrer fortwährenden Menschwerdung eine Richtung gibt und Orientierung im weiteren Umfeld verleiht. Humanität ist nicht Telos im Sinne eines zu erreichenden Ziels, wohl aber Richtunggebung, das heisst Kriterium für die rrelative Bevorzugung der jeweils menschlicheren aus allen offenstehenden Optionen.

5. Herders Psychologie, also seine Auffassung des Zusammenspiels jener psychologischen Funktionen der Menschen, die ihr humanitätsbestimmtes In-der-Welt-Werden "durchführen", ist vom Gedanken der Untrennbarkeit von deren Zusammenspiel bestimmt. Als Grundfunktionen erscheinen (a) eine empfindend-fühlend-bewertende, (b) eine unterscheidend-erkennend-ordnende und (c) eine entscheidend-wollend-agierende. Herder akzeptiert nicht, dass eine der drei den andern übergeordnet werden könne.

6. Die in unserem Zusammenhang der modernen Psychologie vielleicht so bestürzend innovative wie für Herder ebenso selbstverständliche Einsicht betrifft das Werden und die Differenzierung von Kultur aufgrund von dialogisch-evolutiven Strukturbildungsprozessen im menschlichen Zusammenleben. Handelnd bietet einer oder eine ein konkretes neues Gebilde an, etwas vom bisherigen mehr oder weniger, aber nie total Abweichendes. Wird ein solches Gebilde oder Derivate davon von andern nicht liegengelassen, sondern aufgenommen und zurück- oder weitergegeben, so wird solches bald einmal zum Bestandteil eines Repertoirs von Interaktionsformen, aktuell-interaktiven oder ein über zeitlich andauernde kulturelle Gebilde (Zeichen) symbolisch vermitteltes. Der Vorgang ist der gleiche ob er Sprechlaute, Gesten, Werkzeuge, Kult- oder Kunstwerke, sinntragende Gebilde anderer Art oder irgendwelche Momente betrifft, deren Insgesamt im Zusammenspiel mit den Menschen wir Kultur nennen. Herder hat das am eingehendsten am Fall der Sprache durchgedacht; sein Versuch einer Verallgemeinerung auf Zeichenprozesse überhaupt ist offensichtlich, aber in Ermangelung einer dazu geeigneten Semiotik nicht im Einzelnen durchgeführt.

7. Individuelle und Kulturelle Differenzierung im Zusammenspiel: Herders dialogisch-evolutive Kulturpsychologie [noch auszuführen].

8. Ein vorläufiges Fazit: Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass Herder im letzten Drittel des 18. Jh. eine Auffassung vom Menschen in seiner kulturellen Welt entwickelt hat, welche sich am besten als ein dynamischer Strukturalismus charakterisieren lässt, wie er bis heute noch nicht wieder in vergleichbarer Vollständigkeit ausformulirt worden ist. Er denkt die menschliche Kondition als einen offen-evolutiven Vorgang in einem ökologischen System, in welchem Menschen als werdende Individuen in Gemeinschaften und über die Generationen in Traditionen durch ihr kulturelles Handeln ihre eigenen Lebensbedingungen fortwährend generieren und erhalten und damit selbst auf ihr Werden einwirken und ihr besonderes Dasein als einzelne und als Gemeinschaft sichern. Im Unterschied zu den modernen Systemtheorien sieht Herder als Regulative dieser Systemprozesse weder den homöstatischen Ausgleich (der ja Entwicklung nicht erklären kann) noch bestimmte oder bestimmbare Ziele (von denen ja letztlich offenbleiben muss, woher sie kommen sollen), sondern den kultur-evolutiven Prozess in seiner historischen Einmaligkeit selbst, der in jeder seiner Traditionsbildungen ausreichend nachhaltige und ebenso innovative wie stabilisierende Momente enthält.

 

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Abstract zur Anmeldung eines Positionsreferates am Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (November 1993). Publiziert im Abstractband II zum 39, Kongr. der Dt. Ges. Psychol., S.418f., Hamburg, Institut für Psychologie I, 1994, hrsg. von Kurt Pawlik:

 

… DIE SICH IHRE UMWELT SELBER SCHAFFEN … -- HISTORISCHE UND AKTUELLE ANSÄTZE EINER KULTURBEZOGENEN PSYCHOLOGIE

Lang, Alfred, Institut für Psychologie, Universität Bern

Menschen sind Lebewesen, die sich ihre Umwelt zu wesentlichen Teilen selber schaffen. Sie sind phylogenetisch unter Entwicklungs-Bedingungen gekommen, welche den Individuen wie den Gruppen in der Kultur aufgrund systematischer Umweltveränderung und flexibler Zeichensysteme gegenüber denjenigen anderer Lebewesen unabsehbare ontogenetische und kulturgeschichtliche Weiterungen eröffnen.

Diese nicht zu wiederlegenden Tatsachen haben in der Entwicklung der Wissenschaft Psychologie in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine verhältnismässig geringe Rolle gespielt und sind nur am Rande systematisch bearbeitet worden. Psychologischer Praxis freilich sind sie unumgehbar; so muss diese mangels expliziter inhaltlicher, begrifflicher und methodischer Grundlagen die Kulturbedingtheit menschlichen Erfahrens und Handelns in ihr Tun hineinschmuggeln.

Nun sind gerade diese Tatsachen für Gelehrte des 18. Jahrhunderts wie Ferguson, Condillac, Herder u.a.m. von grösster Bedeutung gewesen. Denn sie suchten einen Ausweg aus dem Dilemma, die Menschen und ihre Welt entweder in einer göttlichen Ordnung geborgen oder als Teil einer Naturgesetzlichkeit von unerbittlicher Notwendigkeit sehen zu müssen. Sie erfanden Vorstellungen einer dialogischen Evolution der Menschen mit ihren kulturellen Werken und Zeichensystemen und erwarteten von der Psychologie die Aufklärung dieser generativen Wechselwirkungen des Aufbaus und der Differenzierung von immer komplexeren kulturellen Systemen einerseits und psycho-sozialer Organisation anderseits. Ihre Nachfolger warten bis heute auf eine Psychologie, welche diese Aufgabe systematisch formuliert und Antworten darauf auch empirischen Charakters entwickelt und anbietet.

Der Beitrag skizziert die Grundzüge dieser Aufgabe und zeigt anhand ausgewählter historischer und aktueller Ansätze auf, was für Optionen ihrer Lösung versucht worden sind und werden und welche Vorzüge und Nachteile sie aufweisen.

Cole, Michael (1990). Cultural psychology: a once and future discipline? Pp. 279-335 in: Berman, John J. (Ed.) Nebraska Symposium on Motivation. Univ. Nebraska Press.

Jahoda, Gustav (1992). Crossroads between culture and mind: continuities and change in theories of human nature. London: Harvester Wheatsheaf.

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Ablehnungsbegründung und Argumentation (Auszüge aus meiner Korrespondenz mit dem Verantwortlichen der Kongressorganisation)

"Das Programmkomitee hat sich ... ausser von Kriterien der thematischen Einschlägigkeit und der Detailliertheit des Abstracts auch von dem Gesichtspunkt leiten lassen, nur solche Anmeldungen anzunehmen, die nicht bereits anderweitig publiziert/vorgetragen wurden."

An der thematischen Einschlägigkeit kann es ja wohl nicht fehlen (es sei denn, das Programmkomitee wäre, was ich nicht glauben kann, entschlossen, die Tatsachen der kulturellen Bedingtheit aller menschlichen Tätigkeiten, einschliesslich auch der wissenschaftlichen Untersuchungsverfahren, als nicht zur Psychologie gehörig vom Kongress auszuschliessen); die Themenstellung, einschliesslich ihrer historischen Dimension, erfreut sich international in Buch- und Zeitschriftenpublikationen immerhin eines recht rasch wachsenden Interesses. Zur Thematik ist am DGP-Kongress auch schon gesprochen worden; so weit ich es übersehe freilich, eher programmatisch und nicht in der vorgeschlagenen Zusammenschau von historischen und aktuellen Ansätzen.

Wie die Detailliertheit des Abstracts bei den (ohne die beiden Literaturangaben) gerade eingehaltenen maximal 250 Wörtern ein Ablehnungskriterium sein kann, ist schwer zu verstehen. Sicher hätte ich den einen oder andern Satz klarer formulieren können und würde das gegebenenfalls auch noch nachholen. Dass meine eingefügten psychologie-kritischen Bemerkungen zum Stein des Anstosses geworden sein sollten, möchte ich nicht annehmen; denn das wäre ja dann ein bedenkliches Symptom des Wissenschaftsbetriebs. Aber ich kann sie natürlich im Abstract weglassen.

Bleibt das erstaunliche Kriterium der völlig unbegründeten Annahme, ich würde am Kongress nichts Neues vortragen wollen. Das Programmkomitee scheint zu meiner Ueberraschung nicht nur besser darüber Bescheid zu wissen, was ich in letzter Zeit publiziert bzw. vorgetragen habe, als ich selber. Es lässt sich auch schwer vermeiden, diese Ablehnungsbegründung als einen Vorwurf zu verstehen, ich wolle dem Kongress alte Hüte andrehen. So etwas kann ich, wie Sie sicher begreifen werden, nicht gerne auf mir sitzen lassen, weil es in keiner Weise zutrifft. Ich muss es daher den Vorwurf des Programmkomitees in aller Form zurückweisen.

Ich darf wohl annehmen, dass die Ablehnung meiner Anmeldung auf irgendeinem Irrtum beruht, und Sie bitten, das abzuklären und die nötigen Schritte zu dessen Behebung zu unternehmen.

.../...

Sie haben mir in ihrer Fax-Antwort von heute mittag angeboten, meine Vortragsanmeldung zum Kongress als Forschungsreferat (20') annehmen zu können, wenn ich damit einverstanden bin.

Ich denke, das sollten Sie nicht tun. Denn ich kann das, wie sie wohl verstehen werden, nicht annehmen.

1. Ich habe einen Beitrag angemeldet, in dem Thesen zu Begrifflichkeit, Theorien, Methoden und Praxis der Psychologie auf dem Hintergrund von historischen sowie von aktuellen Denkweisen in unserer Wissenschaft und in ihren Nachbargebieten formuliert werden sollen. Das ist nach der Zusammenstellung der "Arten des Beitrags zum wissenschaftlichen Programm" unzweifelhaft ein Positionsreferat, allenfalls ein Uebersichtsreferat. (Es ist nicht ein interdisziplinäres [oder bloss psychologiegeschichtliches Referat, obwohl von beidem die Rede ist]). Meine Thesen können, ganz abgesehen von dem falschen Rahmen, in dem verkürzten Zeitraum weder angemessen dargestellt noch diskutiert werden.

2. Mir ist eine, zwar allgemein formulierte, aber doch wohl auf meine Eingabe hin zu interpretierende Ablehnungsbegründung gegeben worden, die ich, wie ich Ihnen geschrieben habe, für ehrenrührig empfinde, weil sie mir, frei erfunden, Verletzung des wissenschaftlichen Anstands zuschreibt.

Ich habe angesichts der immensen Aufgabe des Programmkomitees die Möglichkeit eines Irrtums, einer Verwechslung oder dgl. angenommen und Ihnen die Möglichkeit einer Korrektur eingeräumt. Ihr Angebot muss ich nun aber für eine Scheinkorrektur nehmen, da sie weder die Möglichkeit schafft, meine Thesen angemessen vorzubringen, noch mir Satisfaktion bezüglich des ungerechtfertigten Vorwurfs gibt.

Wenn sich das Programmkomitee und die von der DGP eingesetzte Kongressleitung nicht den zwei Anklagen dogmatischer Entscheidungen und ethisch unverantwortbarer Behandlung eines Mitglieds (immerhin seit 30 Jahren) ausgesetzt sehen will, muss wohl eine andere Lösung gewählt werden.

.../...

Ich bin sehr froh, dass ich den telefonischen Kontakt gesucht, dass Sie rasch geantwortet und dass wir ein sehr konstruktives und freundschaftliches Gespräch haben konnten. Im Geschriebenen lässt sich eben auf den erforderlichen Kontext so oft nicht ausreichend eintreten.

Die Situation, in der Sie sich befinden, kann ich nach Ihrer Beschreibung gut nachvollziehen und damit von meiner einseitigen, auf meinem Erfahrungshintergrund freilich auch nicht ganz unverständlichen Interpretation Ihrer beiden Mitteilungen abgehen. Dabei möchte ich ausdrücklich Ihre Person und Ihre institutionelle Rolle voneinander abgetrennt wissen. Ich habe keine schlechten Erfahrungen mit Ihnen gemacht. Und so war denn auch meine Reaktion in keiner Weise eine Ihnen persönlich geltende; im Gegenteil, ich wollte gerade durch Vermeidung einer Anspielung auf unsere lange und freundliche Bekanntschaft den Beauftragten für den Kongress ansprechen.

Ich werde also Ihren Vorschlag der Umlagerung zum Forschungsreferat annehmen und nehme auch Ihre Absicht einer angemessenen Plazierung gerne dankend zur Kenntnis. Auch über Ihr Interesse an meinen Anliegen freue ich mich natürlich und [...]

Ich möchte Sie bitten, Ihrerseits nachzuvollziehen, dass meine Reaktion wohl nur in sehr geringem Masse auch eine persönliche gewesen ist. Ich bin alt und unabhängig genug geworden, als dass ich Kongressauftritte für mich wirklich nötig hätte; fast zwei Jahrzehnte lang habe ich die DGP ja auch eher gemieden. Anderseits habe ich, seit ich wieder zu wissen glaube, was ich zur Entwicklung der Psychologie sinnvollerweise beitragen kann, eine Verpflichtung für Schüler und Mitarbeiter, die sich eben auch auf die öffentliche Geltendmachung unserer Position im fach-institutionellen Rahmen erstrecken muss. Und das betrifft zunehmend auch einen wachsenden Interessentenkreis ausserhalb und innerhalb der Psychologie.

Was meinen Vorwurf der Verletzung des wissenschaftlichen Anstands durch die Ablehungsbegründung mit dem (allgemeinen) Hinweis auf möglicherweise bereits erfolgte Publikation betrifft, so denke ich nach wie vor, dass die Formulierung der Kongressleitung zumindest ungeschickt ist. Dass ich der einzige zu sein scheine, der sich dadurch in seiner wissenchaftlichen Redlichkeit verletzt fühlte (oder jedenfalls darauf reagierte), scheint mir ein Symptom der wachsenden menschlichen Gleichgültigkeit zu sein, in welche die beruflichen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern in mancher Hinsicht immer mehr abgleiten. Dass von Seiten der Veranstalter unter den gegebenen organisatorischen Bedingungen eine einfache Lösung gesucht werden musste, kann ich verstehen und aber zugleich hoffen, dass das nächste Mal eine glücklichere Formulierung gesucht wird.

 

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Forschungsreferat

(Zweiter, gescheiterter und verworfener Entwurf)

 

1. Vorbemerkung

1.1. Sind Menschen nicht Lebewesen, die sich ihre Umwelt zu wesentlichen Teilen selber schaffen? Sie sind phylogenetisch unter Entwicklungs-Bedingungen gekommen, welche den Individuen wie den Gruppen in der Kultur aufgrund systematischer Umweltveränderung und flexibler Zeichensysteme gegenüber denjenigen anderer Lebewesen unüberschaubare ontogenetische und kulturgeschichtliche Weiterungen eröffnen.

1.2. Diese Tatsachen haben in der Entwicklung der Psychologie in dem guten Jahrhundert, seitdem sie sich angeblich als eine Wissenschaft versteht, eine verhältnismässig geringe Rolle gespielt und sind nur an ihrem Rande systematisch bearbeitet worden. Natürlich ist keine psychologische Praxis ohne deren Berücksichtigung durchführbar. Die Wissenschaft Psychologie scheint aber die Praxis, die sie zu begründen behauptet, durch diesen Mangel ihrer begrifflichen und methodischen Ausstattung genau zu der intuitiven Vorgehensweises zu zwingen, welche sie mit ihrer Wissenschaftlichkeit verdrängen oder ersetzen wollte, jedenfalls anhaltend als ersetzungsbedürftig kritisiert.

1.3. Es scheint mir deshalb angezeigt, auf eine Psychologie hinzuarbeiten, welche solchen Umständen in ihren Begriffen, Methoden und Inhalten gerecht wird. Wie mein Abstract und der ursprüngliche Titel für ein Positionsreferat anzeigen, wollte ich an dieser Stelle anhand einiger zentraler Thesen eine solche Psychologie markieren und zeigen, dass ihre Elemente und ihr Grundriss älter sind als ein Psychologiestudent auch nur ahnen kann, wenn er nicht fremdgeht. Die Kongressorganisation hat einen solchen Beitrag nicht für opportun gehalten und mir bloss ein Forschungsreferat im Bereich der Geschichte der Psychologie zugestanden.

1.4. In der verfügbaren Zeit, so schien es mir, kann ich die intendierten Thesen nicht angemessen begründen. So habe ich entschieden, Ihnen einen kleinen Forschungsbericht vorzulegen, der Ihnen vielleicht zeigen kann, in welcher Weise ältere Errungenschaften unserer Wissenschaft unser aktuelles Denken befruchten können. Meine Situation legt nahe, das Thema in der üblichen Form psychologischer Forschungsberichte vorzutragen, also gegliedert nach: Fragestellung, Hypothese, Methode, Ergebnisse, Diskussion.

 

2. Fragestellung

2.1. Meine Ausgangsfragestellung mag Sie seltsam anmuten: Warum wird die Wissenschaft Psychologie von praktisch allen ernsthaften Wissenschaftlern, die ich kenne, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, weder rezipiert noch ernstgenommen, ausser von den psychologischen Wissenschaftlern selbst? Ich setze für den vermuteten Sachverhalt im folgenden das Kürzel: die weitgehende Irrelevanz der Wissenschaft Psychologie.

2.1.1. Handelt es sich um eine psychologische Frage?

Wenn nein -- was denn sonst? demographisch, soziologisch, ethnologisch?

Da ich ein empirie-orientierter Wissenschaftler bin, der sich sein Verständnis der Welt von beobachtbaren Wirkungzusammenhängen in der Welt korrigieren und verbessern lassen möchte, werde ich keine Umfrage unter Wissenschaftlern und andern Beobachtern der Szene anstellen -- obwohl ich gegen eine solche Erhebung wie gegen andere politische Aktionen nichts Wissenschaftliches einzuwenden hätte. Allerdings könnte eine solche Untersuchung ja nur das bestehende Bild bestätigen oder modifizieren, genau genommen, den Konsens darüber bestärken oder abschwächen, nicht aber eine Antwort auf die Warum-Frage liefern. Denn geäusserte Vermutungen über die Bedingungen eines Sachverhalts sind nicht notwendig auch seine faktischen Bedingungen.

Wenn ja -- wie kann sie umgeformt werden, dass sie einer Antwort näher kommt?

Eigentlich spricht manches dafür, jedenfalls wenn Sie als die Hauptleitfrage der Psychologie etwas sehen wollen wie: warum, wie kommt es dass, Menschen die Welt und einander gerade so verstehen wie sie es tun; warum handeln sie gerade so wie sie handeln? Dann kann man sagen: Psychologen machen die Psychologie gerade so, wie sie angeboten wird; und jene Wissenschaftler und andere, von denen Psychologen Interesse erwarten könnten, verzichten so weitgehend auf deren Rezeption, was immer deren gemutmasste Gründe dafür sind: Unkenntnis, Fehlkenntnis, informierte Ablehnung etc.

2.1.2. Sie können natürlich meine Beschreibung des Sachverhalts in Zweifel ziehen oder sein Zutreffen überhaupt verneinen. Im Prinzip lasse ich gerne mit mir reden, wie der Sachverhalt genauer zu beschreiben sei; doch halte ich solche Bemühungen eher für eine Ablenkung von der Frage, wenn sie von der Warum-Frage getrennt erfolgen sollten. Die Gründe dafür werde ich gleich deutlich machen.

2.1.3. Kann ich also, so werde ich unter den gegebenen Umständen weiterdenken, meine Ausgangsfrage so umformen, dass sie einer Beantwortung auf der Ebene der faktischen Bedingungen zugänglicher wird?

2.1.4. Natürlich muss sich meine Sicht der Dinge bei solcher Umformung wandeln; denn ich möchte ja über eine Beschreibung des Ausgangssachverhalts hinaus auch seine Bedingungen mit in Betracht ziehen. Ich werde nicht das Bild meines linken Auges für die Welt selbst nehmen, sondern mich dafür interessieren, was mir mein rechtes Auge oder beide Ohren und weitere Beobachtungsweisen und -verfahren einbringen. M.a.W., angesichts des Irrelevanz-Sachverhalts wäre es sinnlos und reine Selbstbefriedigung, mit einem normalen Forschungsprojekt positivistisch zu reagieren.

2.2. Aber wie üblich in den Wissenschaften bringe ich also meine vorläufigen Sachverhaltsbeschreibung in Beziehung zu einem Satz von Annahmen, die mir meine Beschreibung in ein neues Licht stellen und vielleicht durchleuchten können. Könnte es sich um einem Sachverhalt von der Art handeln, dass er ohne weiteres auch anders hätte werden können als jetzt anders sein oder erscheinen könnte? Das ist eine allgemeine Charakterisierung von historischen Sachverhalten. Solche treffen allgemein auf biotische, individuelle und kulturelle Systeme zu. Oder noch etwas deutlicher: könnte es sich um einen von den Psychologen in ihrem Umfeld von Wissenschaften selbst erzeugten Sachverhalt handeln?

2.2.1. Eine solche Annahme würde implizieren, dass ich kein allgemeines Gesetz suchen soll, welches diesen Sachverhalt in irgendeiner Weise hätte genau so hervorbringen können, obwohl natürlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist und bei der historischen Hervorbringung weder ein gültiges Naturgesetz noch hoffentlich ein fundamentales moralisches Gesetz gebrochen worden ist.

2.3 Das einzige brauchbare Verfahren zur Gewinnung eines Verständnisses von historischen Sachverhalten ist die Rekonstruktion ihrer Genese und die Gewinnung von Einsichten in die Bedingungen, welche in dieser Genese welche Rolle gespielt haben und die Klärung von begründeten Vermutungen darüber, welche Bedingungen inskünftig welche Rolle darin spielen können.

 

3. Hypothese

Bei der modernen, sog. akademischen oder Universitäts-Psychologie handelt es sich um eine historische Erscheinung, die insgesamt als eine epochale Fehlentwicklung charakterisiert werden muss, da sie sich positivistisch mit ihrem selbstgenerierten Gegenstand (zB das menschliche Verhalten in Form von Reaktionen in Experimenten oder von Fragebogenantworten) beschäftigt und weitgehend versäumt, reale Menschen in ihren realen kulturellen, historisch gewordenen und werdenden Lebenssituationen zu untersuchen.

 

4. Methode

Für gegenwärtige Zwecke wird der Anwendungsbereich der Hypothese eingeschränkt auf das Handeln von psychologischen Forschern. Anhand von historischen Entwicklungen von Ideen und Institutionen soll rekonstruiert werden, wie es zu einer solchen Psychologie gekommen ist. Da dies zweifellos ein Prozess von enormer Komplexität und Verästelung ist, wird sich unvermeidlich ein selektiver Zugang anbieten. Das impliziert auch, dass die Frage nicht ein für allemal gelöst werden kann. Darüber sollte man sich freilich in dem Sinne klar werden, dass definitive wissenschaftliche Erkenntnisse in Systemen evolutiver Natur grundsätzlich nicht möglich sind.

 

Vorgehen:

Autoren, die über Fragen der menschlichen Kondition nachgedacht und publiziert oder überhaupt geschrieben haben, werden daraufhin untersucht, was für Begriffe und Verfahren sie zum Verständnis menschlichen Agierens vorschlagen. Vergleichend werden Gesichtspunkte ausgefiltert, welche bei mehreren Autoren auftreten und es wird ein Bild darüber gewonnen, welche dieser Begriffe, Ideen und Verfahren einerseits sich zu einem kohärenten Ganzen von Verständnis fügen, anderseits im Lauf der Zeit mit einer gewissen Konsistenz auftreten.

Das Kohärenz-Kriterium wird über das Konsistenz-Kriterium gesetzt, da die Geschichte der modernen Psychologie, und nicht nur diese, zeigt, dass kollektiver Irrtum in den Wissenschaften ein beträchtliches Risiko darstellt.

In zweiter Linie wird daran zu denken sein, diese Ideen als eine historische Entwicklung zu rekonstruieren, indem mit Hilfe von professionellen Historikern untersucht wird, ob die Konsistenz-Anzeichen von homologem oder von analogem Charakter sind, um eine Begrifflichkeit der Evoltutionsbiologie in die Untersuchung des kulturellen Wandels zu übernehmen. Wie dort sind beide Arten von Ursprungbedeutsam, ja die analoge Wiedererfindung einer Errungenschaft stellt vielleicht sogar ein bedeutenders Zeichen ihrer Wichtigkeit dar als ihre Entlehnung aus älteren Schriften.

Offensichtlich habe ich jetzt ein Programm entworfen, welches nicht in einem einzelnen Projekt durchgeführt werden kann, sondern die gemeinschaftliche Anstrengung vieler Wissenschaftler aus mehreren Disziplinen (denn die wenigsten der ins Auge gefassten Autoren hätten oder haben sich selber als Psychologen identifiziert) erfordert.

 

5. Ergebnisse

Wir sind weit entfernt davon, die Tradition des realistischen Denkens über Menschen oder die Herkunft einer empirieorientierten Anthropologie rekonstrukieren zu können. Was wir jetzt können ist die Charakterisierung einiger wichtiger Stationen

5.1. HERDER -- Versuch, sein Denken über Menschen in der Welt in wenige Sätze zu fassen

Zwei Vorbemerkungen:

a) betr. Weltweisheitslage im späteren 18. Jh.

Die früher vorherrschende Vorstellung, die Welt sei von Gott so eingerichtet und gewissermassen garantiert, einschliesslich ihrer problematischen Seiten, kam in Schwierigkeiten: mit den zunehmenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse erschien Gott immer mehr als Gebundener seiner eigenen Gesetze; um selber allmächtig zu sein, musste er also die Naturgesetze brechen können, und um Menschen Freiheit zu gewähren, musste er ebenfalls ihr Brechen zulassen, allerdings ausser seiner eigenen Macht. Eine paradoxe Situation. Was gab es für Alternativen für das Verständnis von Natur und Menschen, und wie konnten sie Geltung beanspruchen?

b) betr. Herders Ausdrucksweise als lutherischer Bischof

Man kann Herder leicht Inkonsistenz der Ausdrucksweise nachweisen; es ist aber unfair, seine Lebenslage und die dadurch gefordeten Redeweisen seiner Zeit und seines Amtes nicht zu beachten; zu verschiedenen Zeiten äussert er sich jedoch klar genug, in Publikationen und erst recht in Briefen:

Einige Kernsätze zur Charakterisierung Herderschen Denkens über die menschliche Kondition:

1. Die Welt einschliesslich der Menschen muss als etwas in Entwicklung Begriffenes verstanden werden.

2. Auch wenn ein Göttliches sie geschaffen hat (haben mag), ist unübersehbar, dass ihr Verlauf nicht vorgeplant, sondern offen angelegt ist, dergestallt, dass es Gott gewissermassen selber interessiert, wie es weitergehen wird. So ähnlich etwa, wie ein Mathematiker ein paar Annahmen setzt und dann beobachtet, wie sich das damit angelegte System verwirklichen wird. Natürlich muss wenigstens eine indefinite Annahme gesetzt sein.

3. Die grosse Kette der Wesen (Pope) ist von den mineralischen zu den vegetabilen zu den animalischen zu den humanen Formen unverkennbar auf Stufen von zunehmender Komplexität angelegt, allerdings nicht simpel linear auf Fortschritt.

4. Natürlich fehlt Herder wie allen vor Darwin eine brauchbare Vorstellung von Bioevolution; doch ist eigentlich kein Zweifel, dass er die Menschen aus den höheren Tieren hervorgehen lässt und sie demnach als evolutive Emergenzen denkt. Und der tollste Gedanke ist, dass er klar behauptet, es brauche für den Menschen keine besondere, völlig neue Ausstattung (zB mit exklusiv menschlicher Vernunft), sondern bloss eine neue Organisation dessen, was die Tiere vor ihm schon haben.

etc.

5.2 LAZARUS & STEINTHAL

5.3 WUNDT

5.4 SIMMEL

5.5 DEWEY

5.6 VYGOTSKY

5.7 BÜHLER

...

5.51 BOESCH

5.52 COLE

5.53 WERTSCH

5.54 BRUNER

5.55 VALSINER

...

 

6. Diskussion

6.1. Eigentlich würde ich aus dem gesagten gerne einige Schlussfolgerungen ziehen und seine und deren Diskussion dem Diskurs in der Gemeinschaft der Wissenschaftler anvertrauen. Gestatten Sie mir also, dass ich hier das Forschungsberichtsschema leicht beuge und aus den vielen Folgerungen, die sich aus meinen Nachforschungen in der Geschichte des Nachdenkens über die menschliche Konditon ergeben, etwa die folgenden kurz nenne:

[vgl. zB die Sätze in Abschnitt 2 in Lang, Alfred (1994) Auch diese Variante von Psychologie hat wohl nicht "gezündet". Hamburg, 29.9.94. Typoscr. 4 Pp.Deutsche Gesellschaft für Psychologie (Ed.) 39. Kongress der DGP.]

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