Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1993

Heischen und Feilschen

1993.25

@ResPub @CuPsy

5 / 12KB Last revised 98.11.10

Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 134 vom 12.6.93, S.14

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

 

Die Abstimmungen des vergangenen Sonntags geben mir nach wie vor zu denken. Ich gestehe, dass ich mich zu allen vier Fragen durch einen Strich im Feld der Stimme enthalten habe. Was soll denn mein Ja oder Nein bedeuten, was macht man mir daraus? Und verfehlten nicht diese Abstimmungsfragen einmal mehr die wichtigen und dringlichen Probleme? Ich will nicht das Ergebnis kommentieren, sondern über die Voraussetzungen und Folgen des Verfahrens nachdenken.

Sicherheit, innere und äussere, ist in der Tat die Hauptaufgabe des Staates. Bedroht sind wir aber zur Hauptsache durch uns selber. Durch Menschen und Gruppen, welche für ihr Eigeninteresse die Zerstörung der Natur, die Ausbeutung der Mitmenschen und die Verwilderung des Zusammenlebens in Kauf nehmen.

Dennoch, zur Gewährleistung der äusseren Sicherheit braucht ein Staat, ob eigenständig oder eingebunden, heute leider immer noch eine Armee. Für mich besteht daran kein Zweifel! Ob aber mit diesem oder jenem Flugzeug, mit ein paar Übungsplätzen mehr oder weniger: das sind technische Fragen. Das Volk darüber abstimmen lassen und dabei eine Ausführungsfrage zu einer Existenzfrage hochstilisieren, heisst das Volk an der Nase herumführen. Der Vorwurf geht an die Initianten ebensosehr wie an die Armeefreunde innerhalb und ausserhalb der Behörden.

So war es also ein Plebiszit über die Armee. Dann sind allerdings 42.9 und 44.7% Stimmen gegen die Armee bei Stimmbeteiligung von 55% ein schrilles Alarmsignal: ein Zuwachs von 7% in 31/2 Jahren. Die überraschende Wirkung: Selbstzufriedenheit in Behörden und rechten Medien, Kater bei den Initianten, was immer deren Ziele eigentlich sind. Ich reibe mir die Augen. Jährlich 2% Zuwachs an Stimmen gegen die "erste staatstragende Kraft" ergibt, wenn es so weiterginge, in weiteren vier Jahren eine Mehrheit: Grund zu ernsthafter Sorge um diesen Staat, Anlass zu rascher Reform dieser Armee! Ich gehe davon aus, dass vielleicht einige aus dem Kreis der Initianten diesen Staat erledigen möchten. Andere freilich, und wohl auch die Mehrzahl der Sympathisanten, eigentlich nicht: sie möchten ihn aber gründlich erneuern. Aus ihrem Ohnmachtsgefühl greifen sie zu Mitteln, die ihren Zwecken zu dienen scheinen; und die Reaktion, aus ihrer Macht heraus, tut es ihnen gleich. Die Medien spielen das Polarisierungsspektakel eifrig hoch. Kaum eine Stimme erhebt sich zu Fragen nach dessen Sinn. Wenn die Bundesverfassung und die demokratischen Gepflogenheiten solche Politspiele nicht nur zulassen, sondern förmlich erzwingen und damit von den dringenden Aufgaben geradezu systematisch ablenken, dann verfehlt die Organisation unseres Staatswesens die Wirklichkeit.

Degenerationssymptome auch des bernischen Staates fallen seit Jahrzehnten auf. Sein Grundgesetz wurde nun revidiert. Halt im bewährten Bernergeist fortgeschrieben! Wohl auch an der Wirklichkeit vorbeigeschrieben! Gewiss, es steht nach grossem Einsatz vieler Beteiligten manche kluge Neuerung in der Verfassung. Eine andere Frage ist, ob sie eine Verfassung für Volk und Staat oder eher eine Verfassung für die Politiker und ihre Klienten ist. Ich habe Mühe -- und möchte doch so gerne -- mich des Eindrucks zu erwehren, diese Verfassung werde den Bereich "legaler Korruption" noch mehr ausweiten helfen. Lesen Sie doch noch einmal die Artikel 31 bis 36 und 38 bis 53. Das tönt wie Wunschlisten von Pubertierenden, welche die ganze Welt umarmen und beglücken möchten. Das alles kann kein Staat.

Was dachten wohl jene 14% der Stimmenden, die zur Urne gingen, um zur Verfassung einen leeren Zettel einzulegen? Das sind 55'000 Bürger, die gleich mir keine Antwort geben konnten oder mochten. Nur zwei Drittel der Stimmenden oder ein Drittel der Stimmberechtigten sagten Ja zur neuen Verfassung. Warum steht das nicht in meiner Zeitung? Ich musste es selber aus den Zahlen rückrechnen. Warum löst das nicht die Sorge der politischen Beobachter oder gar der Behörden aus? Stecken denn die Mehrzahl der Journalisten schon so tief unter einer Decke mit den Politikern, die den Staat verludern lassen?

Ich meine, die Hauptaufgabe sei, im Bund und in den Kantonen, den Staat auf sein Wesentliches zurückzuführen, bevor er an seiner Überforderung zerbricht. Noch wird man abfertigen oder ignorieren, wer zur Diskussion stellt, unser Proporz-Konkordanz-System sei abzulösen. Doch unsere politischen Parteien haben ausgedient. Denn sie sind der Heischen-und-Feilschen-Sucht verfallen.

Die Volksrechte sollten Auftragserteilung und Notbremse sein. Das Volk muss die Politiker und die Administration manchmal an der langen Leine führen, manchmal an die Kandare nehmen. Beides verhindern unsere staatlichen Institutionen, man möchte fast sagen, in raffinierter Weise. Die Parlamente führen zusammen mit den Exekutiven und den Administrationen eine Art Klubleben, und die Medien sind als Gäste mit von der Partie. Man nimmt uns für das Publikum ihrer Spiele. Man glaubt, uns belehren zu müssen, und wir dürfen gefälligst applaudieren.

Doch dazu haben wir eigentlich diese Leute nicht gewählt. Gesucht sind Männer und Frauen, welche die Zügel neu in die Hand nehmen, bevor der Wagen sich verfährt und zerbricht.

Top of Page