Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1992

Denk-Zeit gewonnen

1992.19

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 302 vom 24.12.92, S.12

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Weihnachten, Geburt Christi oder Wintersonnenwende, verheisst Licht noch mitten im Dunkel. Der EWR-Entscheid verschafft uns ein paar Jahre Denk-Zeit. Chancen zum Erwachen aus den verschiedenartigsten Träumen. [Von Red. gekürzt: Die Schweizer haben den einen Zug nicht genommen. Eile mit Weile! Es fahren mehrere Züge auf verschiedenen Wegen. Über das Ziel brauchen wir aber Konsens, keinen knappen Mehrheitsbeschluss. Denn es darf niemand verloren gehen.

Wird man uns erneut ein Fertig-Gericht vorsetzen? Oder werden wir die Denk-Zeit zur Mitbestimmung nutzen? Nie zuvor waren so viele Menschen in so hohem Masse gebildet und informiert. Die kann man doch nicht fragen, ob die Schweiz zu Europa gehören oder "abseits" stehen soll. Es kann nur heissen: auf welche Weise ist und wird die Schweiz ein Teil von was für einem Europa? Die gleiche Frage stellt sich für die Menschen aller europäischen Regionen. Es müssen Wege gefunden werden, dieses fürchterliche Streben von einigen nach immer mehr -- Komfort, Geld, Glanz, Güter, Prestige, Glück, Umsatz, Macht -- nicht noch weiter anzuheizen. Für alle auf dieser Erde muss ein lebenswertes Leben möglich werden. Ende Kürzung]

So habe ich hier vier Bitten zu Vorsätzen für die kommende Denk-Zeit. Bescheiden gelten sie den Verfahren zur Pflege der gemeinsamen Sache. Ich versuche, aus den überhasteten Kampagnen des vergangenen Jahres einige Einsichten zu ziehen.

Vermeidet das Stopfen und Abschiessen von Strohpuppen! Meine erste Bitte richtet sich an alle, die sich öffentlich zu Wort melden. Auf allen Seiten. Zu viele mediengerechte Schlagworte, auf die man Meinungen reduziert, sind Schläge ins Gesicht der mündigen Bürger. Personen und Gruppen werden damit geistig vergewaltigt, mit Plakaten förmlich überklebt. "Alleingang" zum Beispiel verzeichnet ein Land mit weltweiten Beziehungen ebenso wie "Europa" das derzeitige "Brüsseler" Programm. Oder die sogenannten "Gräben": das sind doch falsche Bilder. Grobkategorisiertwerden macht ohnmächtig. Wie die Fremdendiskriminierung müssen wir auch auch den politischen Meinungsterror überwinden lernen. Es haben zu viele in diesen Kampagnen den Mut verloren, zu ihren eigenen Werten öffentlich zu stehen. Derzeit ist zu befürchten, dass der Konformitätsdruck weiter ansteigt.

Spiegelt und analysiert, aber macht nicht Politik! Diese Bitte geht an die Journalisten aller Medien. Die Versuchung war und ist zu gross, in Integrations-Fragen statt der nicht mehr sehr vertrauenswürdigen Politiker Lehrmeister der Nation zu spielen. Dabei hätte es eine einmalige Chance der Medien sein können, selber an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Da sich alle wichtigen Parteien als gespalten erwiesen, hätte man da nicht schon frühzeitig Zeit und Geduld für den demokratischen Prozess fordern sollen? Wie ist die weitgehende Reduktion der öffentlichen Diskussion des EWR in der Deutschschweiz auf das Rappenspalten und in der Romandie auf den Fortschrittsglauben nur möglich gewesen? Hätte nicht die Presse dem Bundesrat in dem Arm fallen müssen, als er sich selbst zum Propagandisten machte? Und warum den Inhalt von Umfragen oder Äusserungen von Persönlichkeiten als Tatsachen darstellen anstatt zu analysieren, welche Interessenlagen dahinter stehen?

Lasst dem Staat den Überdruck ab, er platzt sonst! Mein Mässigungswunsch richtet sich an alle, die unsere respublica führen, und an alle, die vom Staat das Heil erwarten oder von ihm immer noch mehr einfordern. Auf allen sechs oder acht Ebenen, von Quartier oder Gemeinde bis zur europäischen und globalen Völkergemeinschaft, überstrapazieren wir heute von beiden Seiten her, so glaube ich, diese unentbehrlichen Einrichtungen. Interessengruppen wollen und bekommen zu viel, die Funktionäre erfinden und perfektionieren immer mehr Angebote, nicht zuletzt im Interesse ihrer Selbstvermehrung. Tut alles, um den Staat zu verwesentlichen! Prüft genauer, wann der Einsatz einer oberen Stufe für Aufgaben klug ist, die eine untere Stufe vielleicht überfordern. Übrigens, der UNO-Beitritt ist jetzt fällig.

Hört einander zu!Nehmt einander ernst! Das ist meine einfachste und schwierigste Bitte an alle. Vielleicht versuchen Sie es an diesen Feiertagen mit einem Euro-Gesellschaftsspiel. Arrangieren Sie einen kleinen Kreis. Zugelassen sind Personen mit unterschiedlichen Meinungen zur europäischen Integration und zur Rolle und zum Weg der Schweiz. Personen aus andern Ländern und von "jenseits" der Gegensätze (welsch - deutsch, alt - jung, Stadt - Land, Laien - Politiker) sind besonders erwünscht.

Nehmen Sie sich viel Zeit, aber geben Sie sich Spielregeln: Das Ziel ist erreicht, wenn alle erklärt haben, die Europahaltung aller anderen jetzt besser zu verstehen. Gewinner ist, wer am überzeugendsten glaubhaft macht, seine eigene Meinung jetzt klarer zu kennen als vorher. Die Spielregel ist: Fragen und Antworten. Niemand darf für seine Überzeugung Propaganda machen, sondern bloss auf Fragen und Nachfragen der andern antworten. Eine Schiedsrichterin kann im Bedarfsfall Überredungsversuche abstoppen, das Fragerecht zuteilen und unfaire Fragen ausschliessen.

Freuen Sie sich an den mancherlei Leitvorstellungen und Motiven, die sowohl für Europa wie für Helvetien ein Bild von Vielfalt zeichnen werden, wie es eben Europa und die Schweiz von jeher charakterisiert. Vielleicht schicken Sie einen Protokollauszug von besonders spannenden Spielphasen an Ihre Zeitung. Auf eine Kopie freut sich, mit besten Wünschen und Dank für Ihre mannigfachen Ermutigungen,

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