Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1990

Bildungswidersinn

1990.13

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 258. vom 3.11.90, S.15

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Dieser Tage beginnen rund 1500 junge Menschen ihr Studium an der Berner Universität. In der ganzen Schweiz sind es rund 12'000 oder etwa 12% ihres Jahrgangs. Anders als die 3-5% früherer Generationen haben diese jungen Erwachsenen ihre Entscheidung zu einem Studium in hohem Masse persönlich getroffen. Es ist ein Weg zu ihrer Selbstverwirklichung, nicht mehr eine Vorgabe ihrer Herkunft. Werden sie deshalb gründlicher als ihre Vorgänger nach dem Sinn der Universität fragen?

Mit dem Übergang von der Eliten- zur Breitendemokratie hat das Bildungswesen eine unerhörte Ausweitung erfahren. Zwar führt ein Universitätsdiplom immer noch zu erhöhtem Ansehen, zu verantwortungsvolleren Positionen, zu interessanteren Tätigkeiten; aber es bringt kaum mehr besseres Einkommen als andere Wege. Wenn die Breitenentwicklung ähnlich wie in den umliegenden Ländern weitergehen sollte, wo um die Hälfte der Jahrgänge den Weg über "Hochschulen" gehen, so werden bald alle Auszeichnungen der Akademiker verschwinden.

Weshalb ist dennoch dieser Weg der Verwirklichung seiner selbst für die Jugend so attraktiv? Weshalb ist uns so viel daran gelegen, so viele kopflastige Spezialisten für fast alle Lebensbereiche heranzubilden? Weshalb lässt sich der Allgemeinheit so viel Geld entlocken, um so viele ein Viertel ihrer Lebenszeit in die Kunstwelt "Schule" einzusperren? Und weshalb lassen sich dies so viele in ihren besten Jahren antun und bleiben sogar länger als vorgesehen? Solche Fragen stellen grosse Rätsel, wenn man sich nicht mit Scheinantworten wie "der Fortschritt liegt in der menschlichen Natur" oder "wenn die andern es tun, müssen wir auch" zufrieden gibt.

Sind wir denn alle mit der wissenschaftlich begründeten Bewältigung des Lebens so viel glücklicher geworden? Das kann man nicht im Ernst behaupten. Gewiss haben wir unseren Alltag in mancher Hinsicht damit komfortabler gemacht; aber wir haben neue Risiken und Abhängigkeiten eingeführt, die den Gewinn wohl nur bedingt aufwiegen. Und die einen Formen des Leidens, der Einengung und der Angst haben wir halt durch andere ersetzt.

In kurzer Zeit ist unsere Lebenswelt zu einer riesigen Tingely-Maschine gemacht worden. Alle stecken wir drin, selber Räder, Stützen, Stangen, Brennstoff und Zünder. An den Steuerpulten stehen allerdings überwiegend Akademiker.

Was machen denn die typischen Akademiker in ihren Berufen? Nun, die meisten leisten Dienste.

Es geht das böse Wort um von der Dienstleistungs-Berufswelt: die Hälfte der Beschäftigten versuche eifrig, die Fehler der anderen Hälfte zu reparieren. Alles unter Druck -- fast immer ist fünf vor zwölf. Zum Glück weiss niemand so genau, wer zu welcher Hälfte zählt.

Denn persönlich und im kleinen Kreis schafft die Mehrzahl dieser Beschäftigungen Sinn. Sie bringen nicht nur Auskommen, Komfort und einen Platz im sozialen Geflecht; oft auch sind sie recht interessant, nicht selten wertvoll und tief befriedigend. Ich denke an das Bauen von Häusern oder Maschinen, an das Pflegen von Leidenden, an das Entwerfen von Problemlösungen, an das Weitergeben von Einsichten und viel anderes mehr.

Doch was für das Individuum und seinen kleinen Kreis Sinn macht, häuft sich global zum Widersinn.

Wissenschaftlich begründetes Handeln in und aus den abendländischen Industrienationen hinaus ist zum ungeheuer erfolgreichen "Global-Unternehmen" geworden. So erfolgreich gewissermassen, dass unsere Errungenschaften bereits die meisten Kulturen dieser Welt in ihrer Eigenart erledigt haben und drauf und dran sind, in der Menge der Menschen und des Abfalls ihrer Tüchtigkeit uns alle zusammen mit dem übrigen Leben zu ersticken.

So kam es zu einer neuen Legitimation der wissenschaftlich begründeten Tätigkeiten: wir brauchen die Universität, um aus der Sackgasse wieder hinauszukommen. Obwohl man den Kopfstand der Begründung nicht verleugnen kann -- den Beweis, angemessenes Handeln begründen zu können, hat sie ja eben gerade verfehlt --, ist dagegen schwer etwas einzuwenden. Weil es schlicht keinen anderen Weg gibt. Die Unschuld ist verloren, der Apfel gereicht und genommen. Weder die Eva Wissenschaft noch den Adam Gesellschaft trifft Schuld. Sie sind beide involviert.

Nicht weil es neu wäre, oder weil es mit dem Aufgeschriebenwerden erträglicher gemacht oder gar geändert werden könnte, schreibe ich das alles auf.

Sondern ich möchte für Verständnis werben für das ungeheure Dilemma, in dem vor allem die Jugend leben muss. Sie können fast nur wählen zwischen dem aktiven Mitbetreiben der Maschinerie und irgendeinem untauglichen Aussteige- oder Vermeidungsversuch. Es ist ein perfides Versprechen gewesen, als man zur schrankenlosen Selbstverwirklichung aufgerufen hat und den Konkurrenzdruck in die Höhe trieb. Man muss sogar hoffen, dass möglichst viele glauben, in der Maschinerie wenigstens dem einem oder andern Rädchen einen eigenen kleinen humanen Dreh verleihen zu können.

Wenn die Universität nach den Worten der Basler Stiftungsurkunde von 1492 "tüchtige Fachkräfte züchten" und eine "Gemeinschaft der Sinnsuchenden bilden" soll, dann sind zu lange die Gewichte einseitig gesetzt worden. Wie können wir jenen Teil der Berner Regierung bremsen, der die Universität noch immer als eine Vorkammer des Wirtschaftsexplosionsmotors versteht?

Dieses gesamte Bildungswesen bedarf einer sehr gründlichen Überarbeitung. Wer anders als die Jugend, die das Dilemma schärfer brennt als die älteren, könnte die Impulse dazu geben? Ob es mit Hilfe von Europa leichter gehen wird?

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