Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Journal Article 1987

Gemeinschaft und Vereinsamung im strukturierten Raum: psychologische Architekturkritik am Beispiel Altersheim

1987.01

    @DwellTheo @DwellRes @DwellPrax @EcoPersp

59 / 63KB  Last revised 98.11.01

Alfred Lang; Kilian Bühlmann & Eric Oberli

Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 46 (3/4) 277-289.

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

Inhalt

 

Zusammenfassug: Aspekte einer Wohnpsychologie werden essayartig auf drei Ebenen dargestellt. (a) Eine theoretische Skizze gibt eine psychologische Antwort auf die Frage, warum wir so bauen wie wir bauen: das Gebaute und Gestaltete wird als externalisierte Erkenntnis- und Handlungsstruktur aufgefasst, deren wesentliche Funktion in der Regulation von Autonomie und Integration von Individuen und Gruppen gesehen wird. (b) Ausschnitte aus drei Studien in einem Altersheim zeigen die empirische Fruchtbarkeit dieser Heuristik. (c) Ein psychologisch fundiertes Verständnis des Bauens und des Benutzens des Gebauten ist von hoher praktischer Relevanz.

Abstract: Communality and Lonesomeness in structured space: a psychological critique of architecture for the elderly. Some features of a psychology of the dwelling process are presented in the form of an essay on three levels. (a) On a theoretical level a psychological answer is given to the question why we build the way we build: the built and the designed is conceived as an externalized cognitive and action structure, the essential function of which is seen in the regulation of autonomy and integration of individuals and groups. (b) The empirical relevance of this heuristic is demonstrated with some results of three studies done in a home for the elderly. (c) A psychologically founded understanding of building and of using the built is also of high practical relvance.



Dieser Aufsatz soll einen Einblick in unser umweltpsychologisches Denken und Forschen geben. Die Darstellung ist essayartig und auf drei Ebenen zu lesen: (a) als eine Skizze der Wohnpsychologie des Erstautors, (b) als Kurzbericht über die empirische Diplomarbeit der beiden Mitautoren, (c) als Heuristisches und Praktisches zum Nutzen der Betroffenen. Der Text ist in Anlehnung an diese Ebenen gegliedert, greift aber auch vor und zurück. Der Beitrag plädiert für eine intensivere Integration ökopsychologischer Erkenntnisse in die Architekturtheorie, in die Baupraxis und insbesondere in den täglichen Umgang mit dem Gebauten.

 

Wohnpsychologie

Wohnpsychologie ist zunächst eine Antwort auf die Frage, warum die Menschen bauen und was sie in und mit dem Gebauten tun. Es ist üblich, diese Warum-Frage mit dem Hinweis auf Funktionen des Gebauten zu erledigen: Schutz vor Witterung und vor Feinden, Aufbewahrung von Vorräten und Besitz, Erleichterung von Vitalfunktionen wie Erholung und Aufzucht. Fragt man, warum gerade so gebaut wird wie gebaut wird, so wird auf klimatische Bedingungen und verfügbare Baumaterialien und die darauf gründenden Traditionen verwiesen. Solche Argumentationen mögen partiell stimmen, verstellen jedoch den Blick auf wesentlichere Bedingungen.

Aus dem Vergleich menschlichen Bauens mit territorialem Markieren und instinktgesteuertem Bauen beim Tier wird deutlich, dass es um miteinander verbundene räumliche und soziale Strukturierungsprozesse geht. Es ist also angezeigt, das Bauen und den Umgang mit dem Gebauten zumindest als eine Manifestation der psychischen und sozialen Organisation des Menschen zu begreifen. Bauen und Gebautes sind nun wohl seit langem ein zentraler Gegenstand kulturgeschichtlicher und ethnographischer Verständnisversuche; eine Kulturpsychologie und -soziologie des Bauens als die Herausarbeitung ihrer allgemeinen Bedingungsgrundlage gibt es jedoch nur in Ansätzen (vgl. zB Boesch 1980; Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton 1981; Rapoport 1982; Broadbent et al. 1980).

Ohne auf Einzelheiten der Herleitung und Begründung eingehen zu können (vgl. Lang 1988 a und c) möchten wir hierzu ein allgemeines Theorem zur Bedeutung des Gebauten darstellen und hernach seine Konkretisierung zum Verständnis des Wohnens skizzieren.

 

Gebautes als externale Erkenntnis- und Handlungsstruktur

Als Psychologen verstehen wir unseren Gegenstand, den Menschen, i.d.R. als ein relativ abgeschlossenes Gebilde, dessen Verhalten und Erleben im wesentlichen aus ihm selbst erklärt werden soll, nämlich aus seiner sogenannten Erkenntnisstruktur, das ist das angeborene und im Lauf der Lebensgeschichte aufgebaute innere Bedingungs-Insgesamt des Erlebens und Verhaltens. Diese Aussage trifft gleicherweise zu, ob man Bewusstsein als eine essentielle Eigenschaft der Erkenntnisstruktur oder als ein Epiphänomen betrachtet. Handlungsprozesse interessieren fast ausschliesslich als Resultat solcher psychischer Bedingungen; nur ausnahmsweise, etwa in der Sozialpsychologie, werden sie ihrerseits zu Bedingungen der psychischen Organisation (von andern). Der grossangelegte Versuch der Behavioristen, diese Akzentsetzung auf den Kopf zu stellen und nur noch Reiz und Reaktion, also Weltereignisse anstatt Psychisches, zu thematisieren, ist -- obwohl methodisch unverzichtbar -- inhaltlich gescheitert. Könnte es sein, dass diese beiden Zugangsweisen, die individuumszentrierte wie die weltzentrierte, den Menschen verpassen, weil sie übersehen, dass ein Mensch ohne seine Umwelt gar nicht existenzfähig ist?

Es gibt in der Tat keine guten Gründe für den üblichen scharfen Schnitt zwischen innen und aussen (Lang 1985). Wir versuchen deshalb, aus der bestehenden Blockierung der Psychologie mit einem ökopsychologischen Ansatz herauszukommen, welcher Mensch-Umwelt-Einheiten zu seinem Gegenstand erhebt (Lang 1988 a und c).

Demgemäss ist zu erwägen, dass die Verhaltensbedingungen weder als Stimulation noch als Interpretation ausreichend begriffen werden, sondern stets externe und interne Komponenten kombinieren. So wird unwichtig, ob wir diese Bedingungen innerhalb der psychischen Organisation oder ausserhalb lokalisieren. Wenn wir den Gedanken des Funktionskreises (von Uexküll und Kriszat 1934) ernstnehmen, sollten insbesondere auch jene Verhaltensbedingungen interessieren, welche wir Menschen selber hergestellt haben: das ist, im weiten Sinn verstanden, die Kultur (Boesch 1980). Das Gebaute nimmt da sicher einen prominenten Platz ein, sowohl infolge seines kulturgeschichtlich frühen Ursprungs wie auch seiner ubiquitären Wirkung. Die Überlegung gilt jedoch in analoger Weise für alles Gestaltete, seien es die Dinge des Alltags, sei es die Kunst oder Kultur im engeren Sinn (vgl. Csikszentmihalyi & Rochberg-Halton 1981).

Solche Überlegungen führten uns zum Versuch, das Gebaute und das Gestaltete als eine externale Erkenntnis- und Handlungsstruktur zu begreifen, in welcher ähnlich wie beim Genom und beim Individualgedächtnis eine Erfahrungsgeschichte nicht nur "niedergeschrieben" wird, sondern sich jederzeit im Erleben und Verhalten generativ geltend machen kann und also stets wieder zu etwas führt. Gebautes und Gestaltetes ist zumeist nicht nur viel dauerhafter als das Individualgedächtnis, das wir im Kopf haben; es ist auch stets mehreren Menschen gemeinsam, ist also wie das Geschriebene ein kollektives oder soziales Zeichensystem oder ein Code.

Nach allem, was wir bisher über die Bedeutung gebauter Strukturen für das menschliche Dasein wissen, ist nicht zu übersehen, dass diese Wechselbezüge zwischen Mensch und physischer Umwelt ähnlich wie die nichtverbale Interaktion im Sozialbezug sehr urtümlich sind und im bewussten Erleben nur äusserst spärlich und meistens verzerrt einen Niederschlag finden. Es besteht also eine Aufgabe für die (Umwelt-)Psychologie, die Bedeutung und die Leistungen dieses überindividuellen Aktiv-Gedächtnisses aufzuzeigen und seine Bedingungen, sein Werden und seine Wirkungen wissenschaftlich zu rekonstruieren. M.a.W. wir zielen auf eine Formulierung einer "Grammatik" oder Semiotik des Bauens und des Umgangs mit Gebautem. Auch im Wohnen und in andern Tätigkeiten im Gebauten und um das Gebaute herum manifestiert sich diese "Sprache". Derzeit verfügen wir nur über Fragmente zu solcher Semiotik in ihren signifikativen und kommunikativen Aspekten (Broadbent et al. 1980; Eco 1976).

Wie wir aus den verschiedenen Theorien der Sprache und anderer Codiersysteme wissen, lassen sich immer wieder drei Leistungen von Zeichensystemen mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden (wir verwenden mit Absicht eine ungebundene Terminologie, weil schärfere oder weitergehende Differenzierungen bestimmter Ansätze, etwa der Sprechakttheorie, hier nicht verfolgt werden können): (a) die Zeichen legen etwas dar oder repräsentieren etwas für jemanden; (b) die Zeichen drücken für jemanden etwas aus oder machen jemanden auf etwas aufmerksam; (c) die Zeichen veranlassen jemanden zu etwas oder bewirken bei jemandem etwas. Das gilt auch für Gebautes; doch dürfte in unserem Zusammenhang die zweite und vor allem die dritte Leistung von besonderem Interesse sein. So reflektiert oder repräsentiert eine zwischen zwei Gruppen gebaute Mauer die Zweiteilung eines Ganzen; wichtiger ist sie aber als ein Aufweiser von Trennung und Zugehörigkeit für alle Beteiligten; und sie bestimmt räumliches und soziales Verhalten sowohl der Hiesigen wie der Jenseitigen, indem sie diese zugleich zueinander attrahiert und voneinander fernhält. Ähnliches liesse sich von vielen Baugrundformen wie Tür, Podium, Nische usw. und Objektklassen wie Kleider, Werkzeuge, Fahrzeuge usw. aufzeigen.

 

Was leistet das Bauen für das Wohnen der Menschen?

Versuchen wir nun, solche generellen Bedeutungen des Gebauten, die zu den spezifischen Nützlichkeiten des "Was man damit machen kann" stets unvermeidbar hinzukommen, auf den Wohnbereich zu übertragen. Wie schon angedeutet dienen der geläufigen Architekturtheorie Wohnbauten der Erfüllung spezifischer Bedürfnisse, etwa zur Erholung, zur Ernährung, zur Hygiene, zur Geselligkeit, zur Aufbewahrung von Besitz usw.; dazu kommen gewisse ästhetische, logistische und ökonomische Erfordernisse. Aus psychologischer Sicht ist Gebautes ein Träger psychischer und sozialer Strukturen und Prozesse ähnlich wie das Genom ein Träger einer organismischen Form und das Gedächtnis ein Träger einer psychischen Organisation ist. In zwei Bereichen scheint Gebautes von besonderer Bedeutung zu sein: dem der Entwicklung (vgl. Lang 1981 und 1988 b) und dem der sozialen Bezüge. Letztere sind in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse. Wie schon in Beispielen angedeutet, ist ein wesentliches Element des Bauens das Aus- und Eingrenzen. Das unmittelbare Ergebnis des Bauens ist strukturierter Raum; seine psychosoziale Bedeutung hat demnach mit dem Einbinden und Aussondern von Menschen, Individuen und Gruppen zu tun. Mit andern Worten, gebaute Strukturen sind kulturelle Regulatoren der Autonomie und der Integration von Individuen und Gruppen in die umgebende (soziale) Welt.

 

Autonomie und Integration

Mit diesem Begriffspaar sei ein Rahmenkonstrukt in Form einer grundlegenden, wertneutralen Polarität menschlicher Existenz gekennzeichnet. Denn Autonomie oder Integration können unter realen Bedingungen menschlichen Lebens niemals je zur Gänze verwirklicht werden, ohne dass gerade auch die Existenz aufs Spiel gesetzt wird. Damit wird auch deutlich, dass jede Wertung für oder gegen den einen oder den anderen Pol allenfalls vorübergehenden Charakter haben kann. In dieser Hinsicht bezeichnen wir das Rahmenkonstrukt als wertneutral; nicht zu verkennen aber ist, dass das Konstrukt nicht in einem beliebigen Menschenbild denkbar wäre und mithin auf dieser Ebene auch wertbehaftet ist.

Nun ist das Rahmenkonstrukt mit Inhalten anzureichern derart, dass Gebautes in seiner regulatorischen Rolle in konkreten Mensch-Umwelt-Transaktionen erfasst werden kann. Erwünscht ist auch die Einbettung solcher Konkretisationen in bewährte psychologische Konstrukte. Aufgrund theoretischer Erwägungen und eines mannigfaltigen empirischen Materials aus einer langen Reihe von Diplomarbeiten glauben wir, alle wesentlichen Aspekte der Wohntätigkeit, die über das rein funktionale hinausgehen, in drei Konzepten begrifflich fassen zu können. Methodisch gesehen handelt es sich um Heuristiken der Forschung. Sie zielen darauf ab, die Art und Weise des Umgangs von Menschen mit der physischen Umwelt wie ebenso der physischen Welt mit den Menschen ökologisch, dh in ihrer psychosozialen Bedeutung, zu erfassen und in allgemeinere psychologische Theorien einzubinden.

Die drei Konzepte betreffen (a) die aktuelle Befindlichkeitsregulierung des Individuums für sich (Aktivation), (b) die längerfristige Existenzregulation im Hinblick auf die personale und soziale Identität (Entwicklung) und (c) die soziale Bezugsregulation (Interaktion).

 

Aktivationskonzept

Mit "Aktivation" beziehen wir uns auf die gleichnamigen Konzeptionen von Motivation und Persönlichkeit, welche die Vorstellung eines selbstregulativen und zustandsoptimierenden Gesamtsystems von miteinander in Wechselwirkung stehenden Teilen evoziert. Jede Wohntätigkeit (wie natürlich jede Tätigkeit überhaupt) stützt oder verändert das aktuelle Aktivationsniveau einer Person. Indem der Wohnende eine je bestimmte Umgebung auswählt und gestaltet, wirken von dieser durch ihre kollativen Eigenschaften, dh durch ihren Komplexitätsgrad, ihre (In)kongruenzen, ihre Aufforderungscharaktere usw., stimulierende bzw. erregungsdämpfende Einflüsse auf den Aktor zurück. Wohnen ist in dieser Hinsicht besonders bedeutsam, weil es mehr als die meisten andern Tätigkeiten ein relativ hohes Mass an Eigenbestimmtheit bietet, und zwar sowohl bei der je aktuellen Auswahl der Situation aus einem verfügbaren Spektrum unterschiedlich erregender oder dämpfender Umgebungen (zB Ruhe- oder Aktivbereiche in einem Zimmer, unterschiedlich gestaltete Zimmer, Orientierung nach Strasse oder Hof, u.dgl.), wie auch bei der für kürzere oder längere Zeit das Leben bestimmenden Gestaltung der Wohnumgebung durch das Individuum oder die kleine Gruppe, insbesondere die Familie. Durch die Auswahl und Anordnung der Dinge, die das Innere einer Wohnung prägen, aber auch durch die Eigenschaften der baulichen Strukturen wie zB Grösse der Räume, Massivität der Wände, Grösse der Fenster u.dgl., wird ein äusserst komplexes Einflussfeld bestimmt, dem kein Mensch entgehen kann. Durch seine relative Beständigkeit übt es im wesentlichen einen stabilisierenden Einfluss auf die darin lebenden Personen aus -- man spricht ja von der Wohnung als Heim und Heimat --, und es ist doch zugleich immer ein Feld von Anregungen und Aufforderungen: das Haus als Mikrokosmos.

 

Entwicklungskonzept

Im letztgenannten Beispiel wird schon deutlich, dass die im Wohnbereich thematisierte Mensch-Umwelt-Einheit nur verstanden werden kann, wenn man die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Mensch und Umwelt über längere Zeiträume verfolgt. Indem das Gebaute in der Regel zeitlich länger erstreckt ist als die zugehörigen menschlichen Tätigkeiten -- ein Haus überdauert Generationen, eine Stadt Kulturen, eine Zimmereinrichtung Lebensphasen, wenn nicht immer in ihrer stofflichen Substanz so doch in ihrer charakteristischen Form -- , ergibt sich eine eigenartige, weit über die Zustandsregulation hinausreichende Dialektik zwischen Mensch und Welt, die wir im Entwicklungskonzept einzufangen versuchen (vgl. auch Lang 1988 b). Insofern so zwischen einem Menschen und Weltteilen eine Spannung entsteht, welche über das aktuelle Auswählen oder Gestalten hinaus zu späteren Zeitpunkten auf den Menschen zurückwirkt, sprechen wir von Selbstpflege oder Kultivation; der Besitz von -- und das heisst im wesentlichen die Verfügbarkeit über -- Haus und Dingen erhält so eine (entwicklungs)psychologische Bedeutung von einer Tragweite, wie sie bisher kaum thematisiert worden ist (vgl. auch Cszikszentmihalyi & Rochberg-Halton 1981); denn Entwicklung ist nur aus dem Verhältnis von zwei relativ voneinander unabhängigen Entitäten zu verstehen. Anderseits ist durch den sozialen Charakter von Haus und Dingen -- insbesondere durch die abgestufte Zugänglichkeit der sogenannten Privatsphäre eines Individuums oder einer Kleingruppe -- das kommunikative Geschehen zwischen Individuen, zwischen Individuum und Gruppe und zwischen Gruppen massiv erweitert: wir sprechen hier aus psychologischer Perspektive zunächst von Selbstdarstellung, die aber natürlich sozialpsychologisch und soziologisch in Reziprozität gesehen werden muss. Besitz -- wiederum von Gebautem und von Dingen -- schweisst nicht nur Familien und Sippen über weite Zeiten und Räume zusammen, sondern ist auch ein wesentlicher Träger des konkreten sozialen Geschehens in der alltäglichen Auseinandersetzung. In welchem Ausmass in den industrialisierten Gesellschaften Machtausübung den Umweg über die Gestaltungs- und Verfügungsgewalt über Dinge (und Häuser) genommen hat, ist bisher von der Psychologie weitgehend übersehen worden. Ist bei der Selbstpflege der repräsentative Aspekt der externalen Erkenntnis- und Handlungsstruktur angesprochen, so bestimmt das Gestaltete bei der Selbstdarstellung in erster Linie durch expressive und appellative Momente den Grad der realisierten Autonomie und Integration.

 

Interaktionskonzept

Das dritte Konzept thematisiert demgemäss stärker den sozialen Prozess und Bezug. Psychologisch nimmt es die wichtigen umweltpsychologischen Themen der Privatheit und der Territorialität auf. Diese und weitere verwandte Themen wie Proxemics, halböffentlicher Raum, Soziopetalität und -fugalität u.ä. sind mit dem Nachteil behaftet, dass sie phänomenklassifizierend entstanden und daher nur schwer auf ein gemeinsames Prinzip zu generalisieren sind. Im umweltpsychologischen Interaktionskonzept wird die Rolle des Gestalteten und Gebauten für die Definition und die Veränderung des zwischenmenschlichen Bezuges untersucht. Die in den genannten Themenbereichen eingefangenen Phänomene werden als Resultanten von Regulationsprozessen betrachtet, in denen Raum und Objekte als Bestandteile der externalen Erkenntnis- und Handlungsstruktur soziale Interaktionen und Bezüge tragen. Wiederum hat sich die Psychologie langezeit durch die Beschränkung auf Interaktionen zwischen Menschen blindgemacht für sehr wesentliche Dimensionen des Zusammenlebens, die bei der Analyse von Mensch-Umwelt-Einheiten sichtbar werden.

Beispielhaft für ein ökopsychologisches Verständnis des Sozialbezugs scheinen uns die Studien von Baum und Valins (1977 u. später). In verschiedenen Untersuchungen in Studentenwohnheimen haben die Autoren nachgewiesen, dass nach Zufallszuteilung zu unterschiedlichen Wohnsituationen in wenigen Wochen völlig unterschiedliches Sozialverhalten zu beobachten ist. Das Wohnen in zentral orientierten Strukturen mit familienähnlichen Wohngruppen führt zu sozial interessierten, das Wohnen in linear angeordneten Zimmerfluchten mit homogenisierenden Grossgruppen hingegen zu sozial defensiven, interaktionsscheuen, tendenziell misstrauischen Haltungen. Diese unterschiedlichen Haltungen werden im Alltagsverhalten manifest, und zwar weit über die Wohnsituation hinaus.

In welchem Ausmass räumliche und materielle Gegebenheiten insgesamt soziale Bezüge und Prozesse tragen und bestimmen, braucht hier nicht weiter ausgeführt werden.

Im Rahmen des Interaktionskonzeptes kommt das Inhaltliche der Autonomie-Integrations-Regulation am direktesten zum Ausdruck; Voraussetzung dazu ist ein Lebewesen, welches gegen Ausseneinflüsse in gebührendem Mass und Wechsel sich sowohl abschirmen wie auf sie eingehen kann (Aktivationskonzept) und welches mit Veränderungen der Welt sowohl mitgehen wie in Abhebung von ihr es selbst bleiben kann (Entwicklungskonzept).

Top of Page

Untersuchungen im Altersheim

Die hier nur in groben Zügen vermittelte psychologische Wohntheorie ist zur Hauptsache in bezug auf das Wohnen von Familien entwickelt worden. Sie lässt sich in mancherlei Hinsicht auf Wohnen in Institutionen anwenden.

 

Umwelt und Wohnen im Alter

Während sich in den letzten Jahrzehnten eine facettenreiche Alterspsychologie herausgebildet hat, ist das Thema des Umweltbezugs der Betagten zwar nicht gerade vernachlässigt worden (Lawton 1980, Carp 1987); doch nur wenige Arbeiten haben sich spezifisch mit der institutionellen Wohnsituation von Betagten (Baltes et al. 1983, Saup 1985 und 1986/7) oder Pflegebedürftigen (Welter 1983) befasst. Im ganzen vermittelt diese Literatur den Eindruck, dass Altersheimbau- und -betrieb den Charakter einer Problemlösung angenommen haben, nämlich als das Bereitstellen einer (relativ umfassenden) "Prothese" verstanden wird. Die gerontopsychologische Diskussion dreht sich in diesem Bereich überwiegend um die auch aus der Arbeitspsychologie bekannte Kontroverse bezüglich Kongruenz -- soll die Betagtenumwelt den beschränkten Kompetenzen des Betagten entgegenkommen? -- vs. Komplementarität -- soll die Umwelt die Defizite der Betagten so weit wie möglich aufzuheben versuchen? Sehr viel ist dabei die Rede von "Bedürfnissen" der Betagten; diese werden selten expliziert, aber (siehe unten) fast stets normativ impliziert. Dass diese Sichten ihre Begründung im gesamten institutionellen Netz arbeitsteiliger Gesellschafts- und Einflusstrukturen haben, kann hier ebenfalls nur angedeutet werden. Für uns wichtig geworden ist jedoch die Feststellung fehlender "Distanz" aller Beteiligten -- der Planer, Architekten, Betreuer, Betagten und Angehörigen -- zum Gebauten; während gewisse Dysfunktionalitäten für den Betrieb meist verhältnismässig rasch erkannt und in der Architekturentwicklung der letzten Jahre in hohem Masse behoben worden sind, fehlt den meisten der Blick und fehlen Begriffe für die psychologische Bedeutung des Gebauten für die Betagten und die übrigen Beteiligten.

Wir beschreiben nachfolgend, ohne auf die vorliegende Literatur weiter eingehen zu können, unsere unter den Leitlinien der oben skizzierten wohnpsychologischen Heuristik durchgeführten Studien in einem Betagtenheim einer Berner Vorortgemeinde (Details in Bühlmann & Oberli 1987). Auch auf die Diskussion methodischer Probleme, etwa die interessante Frage des Verhältnisses von Beobachtungsdaten und verbal vermittelten Befunden, können wir nicht eintreten.

 

Das Altersheim Aespliz: Zugangsweisen und Befunde

Das Altersheim Aespliz ist ein "Norm"-Heim entsprechend den Richtlinien der kantonalbernischen Fürsorgedirektion und des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Es wird getragen von zwei politischen Gemeinden. In der Nähe eines Gemeindezentrums gelegen umfasst es neben einem Stützpunkt der Gemeindekrankenpflege und einer Wohnung für das Heimleiterpaar 42 Betagtenzimmer und die erforderlichen Betriebseinrichtungen. In den Wettbewerbsunterlagen wird postuliert, dass das Heim "den wesentlichen Lebens- und Gesundheitsbedürfnisse der Betagten" entsprechen soll; es "soll ein wohnliches Zuhause bieten, die Erhaltung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und die Beibehaltung eines angemessenen Teils an individueller Lebensgestaltung ermöglichen." Zusätzlich wird Wert auf "Wirtschaftlichkeit" und "rationellen Betrieb" sowie auf einen "hohen Grad an Nutzungsneutralität" gelegt, da sich "die Bedürfnisse in der Altersfürsorge über längere Zeit kaum genau festlegen" lassen.

__________________________

 

Abbildung 1 etwa hier

__________________________

 

Die Wohnräume für die Betagten liegen auf drei Geschossen; sie sind mit den Gemeinschaftsräumen auf dem mittleren Hauptgeschoss um einen Innenhof gruppiert. Wie dem Grundriss des Hauptgeschosses in Abbildung 1 zu entnehmen ist, bilden je 7 Zimmer mit einem Gruppenraum eine Wohngruppe. Unsere Untersuchungen richteten sich mit drei Methoden zur Hauptsache auf den heimintern-öffentlichen Bereich, dh den Eingangs- und Aufenthaltsbereich und die Korridore und Gruppenräume; in einer Wohngruppe wurden zudem die Zimmermöblierungen aufgenommen und ausführliche Gespräche über die Lebenssituation geführt.

 

Verhaltenskartographie: was tun die Betagten wann und wo und mit wem?

Mit dem nachgerade "klassischen" Verfahren der Verhaltenskartographie untersuchten wir die innerhalb der Heimöffentlichkeit stattfindenden Tätigkeiten nach ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung und in ihren sozialen Bezügen. Die zu insgesamt 406 Zeitpunkten während zweier Wochen erhobenen 7336 Beobachtungen wurden 14 Inhaltskategorien zugeteilt und nach den verschiedensten Gesichtspunkten analysiert. Sie ergeben ein reichhaltiges, wenngleich gewiss nicht umfassendes Bild des Alltags im Altersheim.

Statt hier einige der vielen Einzelergebnisse unzulänglich darzustellen, beschreiben wir auf der Interpretationsebene unsere zusammenfassende Einsicht, welche die Studie mit vielen Indizien nahelegt: nämlich dass die mit ganz beträchtlichem materiellem und ideellem Aufwand entworfenen und ausgestatteten heimintern-öffentlichen Bereiche nur wenig spontan und ihrer Intention entsprechend zur Interaktion genutzt werden. Die heiminterne "Öffentlichkeit" ist weitgehend durch institutionalisierte, vom strukturierten Tagesablauf bestimmte Tätigkeiten gekennzeichnet.

Etwas pauschalisierend ausgedrückt lässt sich den Ergebnissen entnehmen, dass die Gemeinschaftsräume im Bereich der Eingangszone mit Ausnahme der Cafeteria von den Betagten vorwiegend zum Essen und zum Besuch von Veranstaltungen aufgesucht werden; zu den übrigen Zeiten stehen sie nahezu leer bzw. dienen als Arbeitsort des Personals. Die Gruppenräume -- konzeptuell ebenfalls als interaktionsfördernd intendiert -- lassen sich mit einer Ausnahme (vgl. unten im Abschnitt "Gruppenraum oder Korridor?") in ihrem Tätigkeitsprofil kaum von den Korridoren unterscheiden; dh sie erfüllen eigentlich ihre soziale Aufgabe ebenfalls nicht. Selbstinitiierte, über das gegenseitige Beobachten und den unumgänglichen Austausch von Höflichkeiten und gelegentliche Spannungsäusserungen hinausgehende Interaktion zwischen den Bewohnern findet praktisch nicht statt. Wenn Wohnen eine soziale Tätigkeit ist, welche den Einzelnen zugleich in einer physisch-symbolischen Heimat verankert und in eine Bezugsgruppe einbindet, so findet dies im Betagtenheim nur rudimentär statt oder ist allenfalls auf das Einzelzimmer zurückverlegt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Wohnen in der Institution vom Wohnen im grossen Wohnblock nur unwesentlich (vgl. Lang 1982 a und b, Baltisberger 1984). Statistisch gesehen wohnen die Betagten in den neueren Heimen mehrheitlich allein; in der gesamten Bevölkerung der schweizerischen "Gross"-Städte sind es gemäss Volkszählung 1988 44%.

Diese summarischen Aussagen müssen als vorläufig und im Sinne von Fragen an die gängigen fürsorgerischen und architektonischen Konzeptionen betrachtet werden. Sollten sich die Feststellungen in weiteren Untersuchungen bestätigen lassen -- wie es dem gefühlsmässigen Eindruck des regelmässigen Altersheimbesuchers entspricht --, so wäre zumindest angezeigt, diesbezügliche Planungskonzepte zu überprüfen. Wenn Einsamkeit und Vereinsamung das grosse psychosoziale Problem der kommenden Jahrzehnte ist -- und viele Indizien sprechen dafür --, dann ist die These zu verfolgen, es sei uns bisher nicht gelungen, durch Bauen präventiv oder gar kompensatorisch zu wirken. Beim jetzigen Kenntnisstand (vgl. etwa Seamon & Mugerauer 1985, Stokols & Altman 1987) sind wir dezidiert der Meinung, dies widerlege nicht das umweltpsychologische Credo der Bedeutung des Gebauten für den Menschen, sondern zeuge vielmehr für ein mangelhaftes Verständnis dieser Bedeutung.

 

Spurensicherung: wie ist der Dialog der Betagten mit ihrer physischen Umwelt?

Während unsere verhaltenskartographische Studie unter der Ägide des Interaktionskonzepts durchgeführt wurde, suchten wir uns mit einem zweiten Ansatz gewissen Aspekten des Entwicklungskonzeptes anzunähern. Als Gegenthese zum Diktum: Fertige Häuser machen manchmal die Menschen fertig, wäre zu zeigen, dass in stetigem Wandel befindliche Bauten die Lebensqualität ihrer Bewohner fördern. Sind Betagte nur noch an den stabilisierenden Wirkungen ihrer Umgebung interessiert, oder treten sie in einen Dialog mit ihrer Alltagsumwelt? Vorausgesetzt natürlich, die Rahmenbedingungen des Heimlebens gestatten überhaupt Akte der Selbstpflege und besonders der Selbstdarstellung im gestalterischen Medium.

Im Laufe eines halben Jahres haben wir im gesamten intern-öffentlichen Bereich des Heimes jede Woche eine Bestandesaufnahme der räumlich-gestalterischen Variationen vorgenommen. Alle Veränderungen und ebenfalls ihre Rücknahmen wurden erfasst und nach den Kategorien: Dekorationen, Hauswirtschaft, Information und Unterhaltung, Mobiliar, analysiert. Dieses Verfahren der "Spurensicherung" wurde von den Autoren anlässlich dieser Untersuchung entwickelt. Auch hier müssen wir uns auf globale Befunde beschränken.

Im Untersuchungshalbjahr (mit Beginn kurz nach Bezug des neuen Heimes) wurden insgesamt 1288 solche Veränderungen festgestellt, je etwas über 500 in den Bereichen Mobiliar und Dekoration und je etwas über 100 in den Bereichen Hauswirtschaft und Information/Unterhaltung. Beeindruckend ist die Tatsache, dass insgesamt 77% dieser Veränderungen wieder rückgängig gemacht wurden, Möbel also beispielsweise nur vorübergehend verschoben wurden. Bis zu einem gewissen Grad nutzen mithin die Bewohner die Möglichkeit der Personalisierung ihrer Umgebung: Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass bezüglich der Häufigkeit von Veränderungen deutlich drei Zonen unterschieden werden können: relativ am meisten in den Bereichen vor den privaten Zimmern; etwas weniger in jenen öffentlichen Räumen, die zu Dienstleistungen für alle Bewohner genutzt werden (zB Cafeteria, Sitzgruppe); kaum Veränderungen findet man in den Korridoren, Vorplätzen und Treppenhäusern. Während die Veränderungen in der mittleren Gruppe zum grössten Teil vom Personal ausgehen, findet sich in den sog. Gruppenräumen, also den ausgeweiteten Korridoren oder "Dielen" vor den Privatzimmertüren, ein gewissees Ausmass an Selbstdarstellung mittels Dingen (Bilder, Pflanzen). Diese "verdinglichte" Interaktion ist bemerkenswert, weil mit einer Ausnahme das Angebot dieser Räume praktisch nicht für persönliche Interaktionen angenommen worden ist.

Es beeindruckt also eher die "Widerständigkeit" des Gebauten gegen Veränderung. Die Gründe dafür liegen im konkreten Fall wohl weniger bei Einwänden von Personal und Architekten gegen Zufügungen, welche die "Pflegeleichtigkeit" vermindern oder die Ästhetik beeinträchtigen könnten. Wichtiger scheint, dass es sich bei unserem Betagtenheim um eine modern-postmoderne Architektur von hoher, bis ins Mobiliar durchgezogener ästhetischer Qualität handelt, in der "Fremdkörper" im Prinzip stören. Dies scheinen sich die Bewohner ein Stück weit in einer Art Handlungs-Selbstzensur zu eigen gemacht zu haben. Bauherr und Architekt haben ihren Einfluss auf das Leben der Bewohner in der Architektur instrumentalisiert oder verdinglicht.

 

Gesprächs- und Möblierungs-Studie: wie deuten und definieren die Betagten ihren Umweltbezug?

In einer dritten Untersuchung gingen wir vor allem der Frage des Verhältnisses von Privatbereich und heimintern-öffentlichem Bereich nach. Man könnte die Frage auch im Rahmen des Aktivationskonzeptes formulieren: welche Möglichkeiten der Aktivationsregulierung bleiben den betagten Heimbewohnern. Dazu setzten wir ein kombiniertes Verfahren der Aufnahme der Zimmermöblierung und der Intensivbefragung zum Umzug und zur Wohnsituation in Anlehnung an einen Frageraster ein. Die Autoren hatten in einer Rolle als Umzugs- und Einrichtungsvolontäre das Vertrauen der Bewohner gewonnen, so dass sich das damit verbundene Eindringen in die Privatsphäre im Rahmen der Gegenseitigkeit verantworten liess. Aus den reichhaltigen Befunden vermitteln wir hier einen Eindruck mithilfe eines Fallberichts und einer Diskussion der Problematik der Zimmergrundrisse.

Ein Fallbericht zur Bedeutung von Wohnstrukturen: Einem 85-jährigen Bekannten eines der Autoren war nach langer Ehe in einem 3-Zimmerhaushalt die Ehefrau gestorben; ein Krankenhausaufenthalt mit nachfolgender Pflegebedürftigkeit und die Kündigung der Wohnung unmittelbar nach dem Todesfall liessen als einzige Lösung einen Einzug in ein Betagten-Pflegeheim zu.

"Im Vergleich zum Jahr vor dem Todesfall, wo ich regelmässig trotz der engen Verhältnisse mit einem traditionellen "Tee-Ritual" (Polstergruppe, weisses Tischtuch, Sonntagsporzellangedeck, Kuchen) empfangen worden war, berichte ich hier von meinem ersten Besuch im Pflegeheim: Der Besuch freute ihn sehr; doch schien er zugleich sehr unglücklich und vollständig "verloren" zu sein. In seinem Zimmer stand das Bett, ein Nachttischchen, ein Stuhl, ein Kleiderschrank, ein kleiner Salontisch und ein Polstersessel. Er wusste gar nicht, wie er hier Besuch empfangen konnte. Ich musste im Polstersessel Platz nehmen. Es war das einzige Möbelstück, das ihm von der alten Wohnung übriggeblieben war. Weil er bei der Auflösung des Haushalts nicht dabeigewesen war und niemand an ihn dachte, wurde nichts gerettet, was ihm lieb gewesen war. Dieser Sessel erinnerte ihn (und mich) wenigstens im weitesten Sinne an die früheren Besuchssituationen. Im Gespräch beklagte er sich, wie er nicht nur seine Frau verloren habe, sondern eigentlich alles: seine Möbel, seine Dinge, und auch seine Freunde. Er würde gerne wieder seine Bekannten zum Tee oder Wein einladen, aber dies sei jetzt ja nicht mehr möglich; erstens habe er keinen Platz, zweitens habe er keine Möbel, und drittens stehe das Bett im gleichen Raum. Als vom Heimpersonal der "obligatorische" Tee serviert wurde, wollte er, dass wir ihn in einer kleinen Aufenthaltsecke draussen auf dem Korridor tranken; zwar schäme er sich, aber das sei doch noch besser als drinnen; seiner Lebtag habe er nie mit einem Besuch den Tee im Schlafzimmer getrunken. Er wolle niemanden mehr treffen, sonst müsse er sagen, wie er wohne; aber er wohne ja gar nicht mehr, er vegetiere nur noch dahin..."

____________________________

 

Abbildung 2 ungefähr hier

____________________________

 

Zimmergrundrisse: In Abbildung 2 geben wir zwei typische Zimmergrundrisse mit den von den Bewohnern vorgenommenen Möblierungen wieder, wie sie meist gemeinsam mit Angehörigen und Heimleitung im voraus massgerecht geplant worden sind. Ausser dem (obligatorischen) Bett, dem fakultativen Heimschrank und einer Etagère (einem halbhohen Gestell) sind die Möbel aus dem Privatbesitz der Bewohner. Eingangs- und Schlafzonen sind von uns eingetragen.

In allen von uns untersuchten Möblierungsgrundrissen kommt das Bestreben der Bewohner zum Ausdruck, in ihrem Privatzimmer drei Zonen zu schaffen, um darin, so gut wie es halt geht, die frühere Unterteilung ihrer Wohnung in Schlafzimmer, Wohnzimmer und Eingangsbereich aufrechtzuerhalten. Wie die beiden Beispiele zeigen, gelingt meistens eine einigermassen befriedigende Lösung der Wohnzone. Zwar ist sie für die vielen Stunden das Alleinseins überdimensioniert; doch ist sie in den meisten Fällen unentbehrlich für die Besuche der Angehörigen; die typischen Polstergruppen- und Esstischanordnungen dürften auch ein Stück Kontinuität aus der alten Wohnung tragen helfen.

Trotz der verhältnismässig grossen Grundfläche (ca. 25 m2; dazu kommen noch je etwa 4 m2 Nassraum und Balkon) gelingt die Realisierung einer eigentlichen Schlafzone und einer Eingangszone in den rechteckigen Räumen nicht. Im rechten, typischen Beispiel scheint die Trennung von Wohn- und Schlafzone durch die ins Zimmer herausragende Etagère einigermassen geglückt; die Folge ist jedoch, dass ein von aussen Hereinkommender direkt ins "Schlafzimmer" treten muss. Was für einen Spitalaufenthalt angehen mag, wird beim Daueraufenthalt zu einer Belastung, auf die der Bewohner typischerweise mit einer Erhöhung der Schwelle zwischen Privatbereich und Heimöffentlichkeit antwortet; m.a.W. die Zimmertür wird zu einer starken Barriere, welche wohl die Besucher und das Heimpersonal gewissermassen ex officio überschreiten dürfen, durch die andere Heimbewohner jedoch nur ausnahmsweise zugelassen sind. Der öffentliche Charakter des Korridor-Gruppenraums verstärkt vermutlich noch diese psychologische Schwellenerhöhung. Im linken Beispiel anderseits ist dank der seitlichen und nach aussen aufgehenden Eingangstür eine rudimentäre Eingangszone mit einer Garderobe gelungen, allerdings auf Kosten der Trennung zwischen Schlafen und Wohnen. Ansätze zu besseren Lösungen fanden wir in den (hier nicht dargestellten) Eckzimmern mit nicht-rechteckigen Grundrissen.

  Top of Page

Konstruktive Architekturkritik vom Menschen aus

Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchten wir versuchen, unsere theoretischen Konzepte und die unter deren Anleitung gewonnenen Erfahrungen im Sinne einer konstruktiven Kritik nutzbar zu machen. Mit dem Ausdruck "psychologische Architekturkritik" bezeichen wir eine Beurteilungsweise, welche ein Gebäude oder eine Anlage und deren reale Benutzer zusammen als eine Einheit betrachtet und deshalb die Beurteilung auf eine Beschreibung und Deutung der vielfältigen Wechselwirkungsprozesse zwischen dem Gebautem und den davon betroffenen Menschen abstellt. Der Gegenstand psychologischer Architekturkritik ist also nicht das Gebäude sondern sein Gebrauch; nicht, was ein Haus ist, interessiert, sondern was Menschen damit machen (können) und nicht machen (können), und was es mit ihnen macht.

Unsere Überlegungen richten sich gewiss in erster Linie an die reglementierenden und subventionierenden Behörden, an die institutionellen Trägerschaften oder die planenden und ausführenden Architekten und Ausstatter, ebensosehr aber auch an die den Alltag bestimmenden Heimleiter und das Heimpersonal, und nicht zuletzt an die Betagten selber und deren Bezugspersonen. Wir gehen von der Feststellung aus, dass die Mehrzahl der uns zugänglichen Betagten- und Pflegeheime einen ausserordentlich hohen Qualitätsstandard in bau- und einrichtungstechnischer Hinsicht realisieren und oft nur wenig Wünsche bezüglich Funktionalität offen lassen. Dies sei durch die von uns betonten psychosozialen Gesichtspunkt nicht in Frage gestellt; doch wäre eine ausgewogenere Berücksichtigung der verschiedenen Qualitätsebenen umso wünschenswerter, als menschorientiertes Bauen und Wohnen oftmals weniger zusätzliche Kosten verursacht als vor allem die Anwendung von vorhandenem Wissen und etwas Phantasie erfordert.

 

Ein Rundgang mit Ausblicken

Auf dem beschränkten Raum können nur wenige Hinweise gegeben werden. Wir greifen, indem wir einen hypothetischen Gang durch ein Betagtenheim machen, eine Kette von Orten im Haus heraus, an denen sich kritische Mensch-Haus-Bezüge manifestieren. Die Darstellung ist zwangsweise verkürzt; methodisch verwertet sie theoretisches, empirisches und anekdotisches Material. Den Rückbezug auf die Wohntheorie können wir nur in Andeutungen vollziehen.

 

Die Zimmertür

Wie im Abschnitt über die Gesprächs- und Möblierungsstudie gezeigt wurde, scheinen die Architekten wie die Heimbetreuer die Bedeutung der Zimmertür für den Bewohner bei weitem zu unterschätzen; auch der typische Bewohner selber ist nicht in der Lage, seinen Umgang mit der Türe zu artikulieren, dh in der Tür mehr als eine Schliesseinrichtung zu sehen. Es nützt also wenig, im heimintern-öffentlichen Bereich viel Aufwand zu treiben mit der Absicht, soziale Prozesse zu fördern, und gleichzeitig durch Zimmergrundriss und rein "funktionale" Zimmertür zu bewirken, dass der Bewohner in der Regel alles unternimmt, was eine schroffe Barierre zwischen innen und aussen errichtet. Die Rationaliserung, der Betagte wünsche eigentlich wenig neue Kontakte anzuküpfen, ist da oft allzu rasch zur Hand; wenn man sie wirklich ernst nähme, müsste man eigentlich auf Gemeinschaftsräume verzichten.

 

Gruppenraum oder Korridor?

Wie in der Verhaltenskartographiestudie dargelegt wurde, funktionieren die rein architektonisch geglückt scheinenden Gruppenräume mit vielleicht einer Ausnahme derzeit nicht. Während in Ess-Saal und Cafeteria 73 % der täglich beobachteten Tätigkeiten der Bewohner stattfinden (wie erwähnt, überwiegend organisierte Tätigkeiten), ziehen alle 5 Gruppenräume zusammen nur 7% der (spontanen) Tätigkeiten auf sich; davon fallen mehr als die Hälfte der beobachteten Tätigkeiten auf einen einzigen der 5 Gruppenräume, nämlich denjenigen im südwestlichen Obergeschoss. Die Erklärung könnte darin gesucht werden, dass sich hier zufällig eine Gruppen von Betagten gebildet hat, die an gemeinsamem Spiel interessiert sind; es gibt aber zu denken, dass dies der einzige Gruppenraum ist, welcher nicht gleichzeitig als Durchgangskorridor für Personal oder Betagte zu irgendwelchen Dienstleistungsbereichen dienen muss. Mit einem Gefühl der Hemmung, in etwas Halbprivates einzudringen, begibt sich denn auch der Heimbesucher und sogar ein Teil des Personals entsprechend selten dorthin; die Personalisierung des Bereichs, speziell die bleibenden Veränderungen, ist weitergehend als in den übrigen Gruppenräumen. Wahrscheinlich liegen hier bedeutsame Bedingungen für das Entstehen der geselligen Gruppenatmosphäre und damit für die wenigstens minimale Nutzung des Raums.

 

Die Wohngruppe oder das Betagten-Management

Es wird zu Recht als eine Errungenschaft betrachtet, dass man von den Schlafsälen oder Zimmerfluchten früherer Epochen zur Idee der Wohngruppe von überschaubarer Grösse vorgestossen ist. In der Tat ist ein "Gesetz der kleinen oder mittleren Zahl" für viele psychosoziale Strukturen und Prozesse von grösster Bedeutung. Man sollte sich aber nicht der Illusion ergeben, in diesen "Gruppen" wären die Betagten eher in der Lage, ihre persönliche Würde zu wahren und zugleich eine intensivere soziale Integration zu verwirklichen. Wir können uns anhand verschiedener anekdotischer Beobachtungen des Eindrucks nicht erwehren, dass in den von uns besuchten -- durchwegs hervorragend geführten -- Heimen der Umgang mit Idee und Realität der "Gruppe" von weitgehend unanalysierten Annahmen ausgeht. Vereinfachend gesagt scheint man anzunehmen, dass "Gruppe" immer besser ist als Alleinsein, dass die grössere Gruppe besser ist als die kleine, dass eine homogene Gruppe besser ist als eine heterogene, dass eine lenkbare Grupe besser ist als eine eigenständige u.dgl.m. So verständlich diese Annahmen aus der Sicht der fürsorgerischen Aufgabenstellung erscheinen, so sehr verdecken sie auch Widersprüche zwischen der baulich und organisatorisch manifesten "Bevormundung" des Betagten und dem expliziten Ziel, die Würde seiner Person zu achten, und das heisst für uns u.a., seinen Regulationsansprüchen bezüglich Integration und Autonomie gerecht zu werden.

 

Ess-Saal oder Gemeinschaftsraum?

Die im vorhergehenden Abschnitt angerissenen Fragen wurden erst im Laufe unserer Untersuchungen erkennbar. Sie lassen sich beispielhaft anhand einer Beobachtung in einem Pflegeheim erläutern. Wir konnten dort zwei Stockwerke mit je ca. 24 pflegebedürftigen Betagten vergleichen, die in Einer-, Zweier- und Viererzimmern leben. Die beiden Stockwerke weisen mit einer Ausnahme den gleichen Grundriss auf: im Stockwerk A gibt es einen gemeinsamen Aufenthalts- und Essraum, im Stockwerk B an derselben Stelle zwei Patientenzimmer, durch eine kleine Nische oder Diele mit dem Hauptkorridor verbunden. Diese architektonische Differenz hat zur Folge, dass im Stockwerk A alle Patienten täglich in den Ess-Saal gebracht, dort -- praktisch jeder für sich allein -- auf das Essen warten und nach dem Essen wieder in ihre Zimmer zurückgebracht werden. Im Stockwerk B hingegen mussten die Patienten -- zum Bedauern des Pflegepersonals -- in ihren Zimmern essen; sie taten dies an kleinen Tischen, allein, zu zweit oder zu viert. Die Bewohner im Stockwerk B zeigten nun teilweise mehr spontane Kontakte untereinander als diejenigen im Stockwerk A; in der kleinen Nische vor den beiden zusätzlichen Zimmern hatte sich eine besonders intensive Gemeinschaft der drei Bewohner ergeben, die über das Essen hinaus bestand. Im ganzen machte uns das Stockwerk B den Eindruck von relativ grösserer Selbständigkeit der Bewohner; im Stockwerk A waren sie vermehrt auf Hilfe angewiesen. Wir betrachten diese Unterschiede im psychosozialen Verhalten und Klima als eine Sekundärfolge der architektonischen Unterschiede, welche teils direkt, teils über den Umweg organisatorischer Momente vergrösserte bzw. verkleinerte Regulations-Spielräume der Aktivation und Interaktion mit sich bringen. Natürlich können wir im konkreten Fall andere Faktoren nicht ausschliessen. Immerhin wurden die Betagten nach dem Prinzip der freiwerdenden Betten weitgehend zufällig zugeteilt; ob die Haltung des Personals, insbesondere der über längere Zeit die Abteilung bestimmenden leitenden Schwester, von aussen mitgebracht oder ebenfalls durch die architektonischen Bedingungen mitbestimmt worden ist, müssen wir offenlassen.

 Top of Page

Literatur

BALTES, Margret M.; BARON, E.M.; ORZECH, M.J. & LAGO, D. (1983): Die Mikroökologie von Bewohnern und Personal: eine Behavior-Mapping-Studie im Altenheim. Zeitschrift für Gerontologie 16, 18-26.

BALTISBERGER, Ingrid (1984): Ältere Frauen in ihrem Quartier: wie unterscheiden sich Gruss- und Hilfsverhalten älterer Frauen in zwei unterschiedlich gebauten Quartieren voneinander? Dipolomarbeit, Psychol. Inst. Univ. Bern.

BAUM, A. & VALINS, S. (1977): Architecture and social behavior: psychological studies of social density. Hillsdale NJ, Erlbaum.

BOESCH, Ernst E. (1980): Kultur und Handlung. Bern, Huber.

BROADBENT, G.; BUNT, R. & LLORENS, T. (Eds. 1980): Meaning and behaviour in the built environment. Chichester, Wiley.

BÜHLMANN, Kilian & LANG, Alfred (1984): Mir mache Hüser -- was mache die Hüser mit üs? [Wir machen Häuser -- was machen diese Häuser mit uns?] Videofilm (12 Min.), Psychologisches Institut der Universität Bern.

BÜHLMANN, Kilian & OBERLI, Eric (1987): Das Altersheim Aespliz - eine umweltpsychologische Architekturkritik. Diplomarbeit, Psychol. Inst. Univ. Bern.

CARP, Frances M. (1987): Environment and aging. Pp. 329-360 in: Stokols, D. & Altman, I. (Eds.): Handbook of environmental psychology. Vol.I. New York, Wiley.

CSIKSZENTMIHALYI, M. & ROCHBERG-HALTON, E. (1981): The meaning of things: domestic symbols and the self. New York, Cambridge Univ. Press. (Dt. Übersetzung in Vorbereitung: München, Psychologie-Verlags-Union.)

ECO, Umberto (1976): A theory of semiotics. Bloomington, Indiana Univ.Press. (Dt.: Semiotik: Entwurf einer Theorie der Zeichen. München, Fink, 1987.)

LANG, Alfred (1981): Vom Nachteil und Nutzen der Gestaltpsychologie für eine Theorie der psychischen Entwicklung. S. 154-173 in: Foppa, K. & Groner, R. (Eds.): Kognitive Strukturen und Prozesse. Bern, Huber.

LANG, Alfred (1982 a): Die psychosoziale Bedeutung des Wohnens. Kap. 22 in: Familienpolitik in der Schweiz. Bern, EDMZ, 62-72.

LANG, Alfred (1982 b): Besser wohnen - anders bauen. Schweizerische Zeitschr.f. Gemeinnützigkeit 121 (4) 85-97.

LANG, Alfred (1985): Remarks and questions concerning ecological boundaries in mentality and language. Pp. 107-114 in: SEILER H.J. & BRETTSCHNEIDER G. (Eds.): Language invariants and mental operations. Tübingen, Narr.

LANG, Alfred (1988 a, im Druck): Das Ökosystem Wohnen - Familie und Wohnung. In: LÜSCHER, K. et al. (Eds.): Die "postmoderne" Familie: familiale Strategien und Familienpolitik im Übergang. Konstanz, Universitätsverlag.

LANG, Alfred (1988 b, im Druck): Die kopernikanische Wende steht in der Psychologie noch aus! - Hinweise auf eine ökologische Entwicklungspsychologie. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 47 (2/3).

LANG, Alfred (1988 c, in Vorb.): The built as a regulator of autonomy and integration: towards a theory of the dwelling activity. Invited by Hiroshima Forum of Psychology.

LAWTON, M.P. (1980): Environment and aging. Monterey CA., Brooks & Cole.

RAPOPORT, Amos (1982): The meaning of the built environment - a nonverbal communication approach. Beverly Hill, Sage.

SAUP, Winfried (1985): Zur Verbesserung der Wohnqualität in Altenheimen; ein psychologischer Beitrag. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Nr. 4, 264-277.

SAUP, Winfried (1986/7): Lack of autonomy in old-age homes: a stress and coping study. Journal of Housing for the Eldery 4 (1) 21-36.

SEAMON, David & MUGERAUER, Robert (Eds. 1985): Dwelling, place and environment: towards a phenomenology of person and world. Dordrecht, Nijhoff, 1985.

STOKOLS, Daniel & ALTMAN, Irwin (Eds. 1987)): Handbook of Environmental Psychology. 2 Vols. New York, Wiley.

UEXKÜLL, Thure von & KRISZAT, Georg (1934): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Frankfurt, Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1983.

WELTER, Rudolf (1983): Ökologische Aspekte zur Frage der Rehabilitationsmöglichkeiten in Pflegeheimen. Zeitschrift für Gerontologie 16, 2-6.

 Top of Page

Legenden zu den Abbildungen:

Abbildung 1: Grundriss des Hauptgeschosses. Die dunkler schraffierte Fläche ist "privater", die heller schraffierte "halböffentlicher" und "öffentlicher" Bereich. Um je einen Gruppenraum sind 7 Einzelzimmer angeordnet. Auf den bepflanzten Innenhof geht der Blick von allen Seiten durch grosse Glasscheiben. Die dem ganzen Heim gemeinsamen Räume sind um den Eingang von der Strasse her zusammengefasst.

Abbildung 2: Zwei Beispiele von Zimmergrundrissen und -möblierungen mit von uns eingetragenen hypothetischen Zonierungen. Links Mittelzimmer Süd, rechts Standardzimmer West. Erläuterungen im Text. 

Top of Page