Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Review 1979

GASSMANN, M. et al. (1990): Soziale Psychologie. Topia, Zürich. 213 S., kart.

1979.06

@Ethic @DivPsy

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Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, 1979, 38 (4) 1979 366-369

© 1998 by Alfred Lang

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Die Autoren dieses Sammelbandes versuchen «die Natur des Menschen (zu) beschreiben. Der Mensch wird als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden und deshalb mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne jegliche irrationale und mystische Uberlegungen untersucht» (Klappentext). Das tönt interessant, enthält aber leider bereits das fundamentale Mißverständnis, daß mit naturwissenschafdieher Methode etwas über die Natur einer Sache ausgesagt werden könne. Wie aus dem einleitenden Aufsatz von U. Palmer mit dem Titel «Tiefenpsychologie auf naturwissenschafdieher Grundlage» hervorgeht, soll das «wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychologischen Lehrund Beratungsstelle Zürich», d.h. der sogenannten «Züricher Schule» von Friedrich Liebling dargestellt werden. Eine wissenschaftliche Rechtfertigung finden sollen also u. a. offene gruppenpsychotherapeutische Sitzungen mit oft 200 bis 300 Teilnehmern. Der Gerechtigkeit halber muß angemerkt werden, daß eine erschöpfende und abschließende Rechtfertigung nicht angestrebt wird. Erbracht werden soll aber ein teilweise auf Großgruppengesprächen beruhender Diskussionsbeitrag zur Frage: warum versteht sich die «Züricher Schule» als Naturwissenschaft und nicht als Geisteswissenschaft? Eigentlich bedürfen also zwei Fragen der Beantwortung. Die erste, was von dieser Züricher gruppenpsychotherapeutischen Praxis zu halten sei, kann ich mangels Information (es gibt nicht einmal eine Literaturangabe darüber) nicht beantworten; ich wäre dazu auch nicht kompetent. Wie man sehen wird, müßte der Titel des Bandes eigentlich heissen: «Soziale Psychotherapie»; er ist die einzige konkrete Anspielung auf die offenbar in einem breiten Publikum großes Interesse findende Praxis, die in der Tat «sozial» (d. h. hier für den einzelnen Teilnehmer billig) ist, obwohl sie dem Veranstalter nicht wenig einbringen soll. (Mit dieser Bemerkung möchte ich nur auf die Problematik solcher Praxis hinweisen; die «Züricher Schule» sollte sich bald und umfassend auch als Praxis der öffentlichen Fachdiskussion stellen!)

Ich kann also im folgenden nur auf die zweite Frage, den vorliegenden Begründungsversuch betreffend, eingehen, und auch das nur, insoweit die geübte, mir nur vom Hörensagen bekannte Praxis, nicht in spezifischer Weise gerechtfertigt werden soll. Das ist nun in der Tat kaum der Fall, und so kann ich versuchen, Attraktivität und Verfehltheit dieses Ansatzes in Kürze aufzuzeign.

Es wird ausführlich ein Bild der Naturwissenschaft gezeichnet als basierend auf der induktiven Methode. Das ist ein etwas veralteter «Hut»; immerhin wird eine gewisse Zeit- und Methodenbedingtheit der jeweiligen Erkenntnis gesehen; der eingenommene Standpunkt wäre also beim Neopositivismus oder logischen Empirismus einzuordnen. Es wird dann auch der im Prinzip revolutionäre und emanzipatorische Charakter naturwissenschaftlichen Vorgehens gegenüber etablierten Obrigkeiten hervorgehoben. Das geisteswissenschafdiche Vorgehen wird unter ausführlicher Berufung auf Texte von Dilthey als autoritär, ja reaktionär entlarvt. Das mag gewiß in der vorgetragenen Abstraktheit ein Stück weit seine Richtigkeit haben; doch müßte man sehen, daß eine modernere Wissenschaftstheorie die Grenzen der Induktion gezeigt und nachgewiesen hat, daß Naturwissenschaft im Prinzip genau so willkürlich, traditions-, ja personabhängig vorgebt (Kuhn, Polanyi, Lakatos, Feyerabend usw.). Hier wird argumentiert, wie wenn Kant nie die Grenzen der Erkenntnis in unseren Erkenntnismöglichkeiten aufgewiesen hätte.

Was bedeutet das für die Psychologie? Es wird behauptet, hier werde ein neues Menschenbild gezeichnet, ein naturwissenschaftlich-tiefenpsychologisches. Der Mensch sei ein Naturwesen, aus der Evolution stammend, sich weiterhin entwickelnd und dazu auf Betreuung angewiesen, also ein lernendes und ein soziales Wesen. Keine Instinkte oder Begabungen angeboren, kein freier Wille, Früherwerb des Charakters durch Erziehung in einer Gemeinschaft, die gebildet sei aufgrund des Egoismus jedes Einzlnen, weil er nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden könne. Verhaltens- und Entwicklungsstörungen seien das Resultat eines pervers gewordenen Strebens nach Selbstentfaltung unter ungünstigen Bedingungen und so weiter. Ich paraphrasiere Texte von S. 54f. und 121 ff. und könnte andere mehr beiziehen: das ist ein reichlich krauses «anthropologisches» Gebräu, das einem hier vorgesetzt wird, aus Darwinismus, Behaviorismus, Psychoanalyse, Rousseauismus und «Humanistischer» Psychologie zusammengemixt. Es ist denn auch fast beliebig ergänzbar mit Postulaten, die immer unter Berufung auf die naturwissenschaftlich bestimmte Natur des Menschen evoziert werden; und ob das zum übrigen konsistent ist, interessiert offenbar wenig. Da steht z. B. (S. 128): «Freiheit ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur». - Warum denn, wenn alles, was der Mensch in einem langen Lernprozeß wird, von der Umwelt bestimmt wird? - Nein, diese Bestimmung sei nicht beliebig, sonst würden schwere Störungen im Gefühlsleben auftreten, die der Psychotherapie bedürfen. Oder es liege «in der Natur des Menschen, daß Mann und Frau eine Lebensgemeinschaft bilden», heißt es Seite 134; der Wunsch nach Ehebruch sei ein Symptom für eine Störung in der Beziehung, die der psychotherapeutischen Abklärung bedürfe. «Die sozialen Verhältnisse, wie wir sie heute in unserer Gesellschaft vorfinden, machen den Menschen krank, weil sie nicht der menschlichen Natur entsprechen», heißt es S. 156. Exemplifiziert wird mit den erfahrenen Minderwertigkeitsgefühlen von Unterschichtangehörigen; aber auch der sozial Bessergestellte habe es schwer, weil ihn Überlegenheitsgefühle und Mangel an Solidarität in der Entfaltung seiner sozialen Möglichkeiten behinderten. Insbesondere die Eltern seien es, die den Kindern diese krankmachenden Gefühle der Ungleichheit vermittelten, am stärksten durch eine religiöse Erziehung. Die Schlußfolgerung ist nun wohl schon klar. Auf S. 54 heißt es deutlich: «Charakteränderungen erfordern therapeutische Hilfe». Allenthalben werden beträchtliche Hoffnungen geweckt und zugleich um Geduld gebeten

Ich muß aus Raumgründen darauf verzichten, die Mischung von viel Richtigem mit zum Teil haarsträubenden Fehlern und Entstellungen, die aber einem halbgebildeten Leser leicht imponieren können und die immer wieder als naturwissenschaftlich belegt und gesichert hingestellt werden, zu analysieren (z.B. S. 179: alle Menschen seien biologisch grundlegend gleich; oder S. 89: Gemeinschaft sei nur auf der Basis des Egoismus der Individuen möglich). Was hier vorliegt, ist keine Wissenschaft, und schon gar nicht eine soziale oder eine naturwissenschaftliche Psychologie. Hier wird vielmehr unter dem Vorwand von Wissenschaftlichkeit Ideologie betrieben, und zwar offensichtlich im direkten Dienste eines Interesses. Es ist das entscheidende Merkmal wissenschaftlichen Tuns, daß man seine Aussagen belegt; der Naturwissenschaft, daß die Theorie an allgemein Beobachtbares angebunden wird; der wissenschafdich fundierten Praxis, daß ihre Mittel wirklich zu den angestrebten Zielen führen (daß die Brücke hält, daß die Therapie heilt). Nichts von alledem ist da. Hier wird fröhlich behauptet, allenfalls unter Berufung auf Autoritäten wie Spitz oder Fromm oder Bernstein (um die .empirischsten, aller erwähnten «Psychologen» zu nennen). Operiert wird mit i. d. R. tautologischen Definitionen, von empirischen Befunden oder Daten findet sich keine Spur; nicht einmal konkrete Fälle werden genannt, bestenfalls konstruierte Beispiele nach Art der Philosophen. Da von der Therapie gar nicht erst konkret gesprochen wird, entsteht natürlich schon gar nicht die Frage nach ihrem Erfolg. Wenn etwas dann erinnert das Vorgehen an die schlechten Seiten antiquierter «Geisteswissenschaft», indem nämlich als Wahrheit behauptet wird, was einem oder einer Gruppe so erscheint, weil es zu deren Interesse paßt. Als Wissenschaftler wehre ich mich gegen die Perfidie, mit der hier der Laie im Namen der Wissenschaft an der Nase herumgeführt wird: ist das eine Gaunerei oder bloß Naivität von halbgebildeten Doktoren der Philosophie (im Inhaltsverzeichnis bei 4 von 5 Autoren bescheiden angemerkt)? Wie wenig diese Autoren von der Wissenschaft Psychologie verstehen, zeigen sie fast Seite für Seite: warum wird z. B. Skinner desavouiert (S. 192, Anm. 30), obwohl er doch ein in manchen Zügen übereinstimmendes Menschenbild vertritt und aber in «Beyond freedom and dignity» wesentlich konsequentere, aber halt nicht so interessenstützende Schlußfolgerungen gezogen hat? Wie viel aber diese Autoren von praktischer Psychologie verstehen, das wird ebenfalls fast auf jeder Seite deutlich: äußerst geschickt wird hier an das begrenzte Denkvermögen von Leuten appelliert, welche die religiöse Orientierung verloren haben, ein bisschen wissenschaftsgläubig aber nicht kritisch genug sind; die es glücklich macht, auf all die Umstände und andern Menschen zu schimpfen, welche sie an ihrer Selbstentfaltung hindern (Egoismus als zentrale Kraft), und die doch gleichzeitig nicht selbständig genug sind und also der psychotherapeutischen Hilfe bedürfen, um sich auf den Weg zum Glück zu begeben.

A. L.

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