Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1978

Einige Überlegungen zur Rechtfertigung psychodiagnostischer Tätigkeit in der Beratung

1978.02

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Pp. 121-140 in: Ist Psychodiagnostik verantwortbar? -Wissenschaftler und Praktiker diskutieren Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Erfassungsmittel Herausgegeben von Urs Pulver, Alfred Lang & Fred W. Schmid. Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien, 1978

© 1998 by Alfred Lang

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Ich bin gebeten worden, an dieser Tagung über beraterische Diagnostik aus der Sicht der Wissenschaft zu sprechen; ich sollte gewissermassen die "Anforderungen der Wissenschaft an die Psychodiagnostik präzisieren

Für einen empirischen Wissenschaftler ist eine solche Aufgabe unlösbar, es sei denn, er verlege sich auf methodologische Detailforderungen und setze dabei einen allgemeineren Zielrahmen als unproblematisch voraus; das ist offensichtlich nicht, was wir heute tun wollen. Ich werde zunächst die Unerfüllbarkeit dieser Aufgabe zu begründen versuchen und dazu einige wissenschaftstheoretische Überlegungen anstellen, die mir für das Problem relevant erscheinen.

Das führt mich dann zu einer Darstellung meiner Sicht der beraterischen Diagnostik. Ich versuche einen Kontext aufzuzeigen, von dem ich mir vorstelle, dass er die Rolle der Diagnostik deutlich machen kann. Dabei gehe ich einmal davon aus, dass der Berater als Problemloser fungiert und seinen Gegenstand ähnlich wie irgendeine angewandte Wissenschaft angeht. Allerdings erzwingen einige Besonderheiten seines Gegenstandes einige Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten, auf die ich hinweisen werde. Zweitens betrachte ich den Berater als eine soziale Instanz, einen Rollenträger, dem man einen Auftrag gibt, wenn er seine Lösungsmöglichkeiten rechtfertigen kann. Ich untersuche Möglichkeiten der Rechtfertigung der Psychodiagnostik aus der Person des Beraters und aus der beraterischen Tätigkeit selbst und finde beide Ansätze reichlich problematisch. Das veranlasst mich, für einen Abbau der formellen Diagnostik in der Beratung zu plädieren.

Ich möchte im voraus den Stellenwert meiner Überlegungen deutlich machen. Ich mache, entsprechend der Komplexität des Gegenstandes und der Nichtverfügbarkeit einschlägiger Methoden und Befunde, bloss eine impressionistische 'Diagnose"; meine Deutung beansprucht nicht mehr zu sein als das, was ich der Diagnostik beim Problemlösen zugestehe: unverbindliche, aber vielleicht bedenkenswerte Ideen; keine gesicherten, gerechtfertigten Aussagen, sondern bloss Argumente, die das Feld und den Fortgang einer Diskussion vielleicht etwas beeinflussen können. Ich muss diese Qualifizierung vorausschicken, weil ich in Gesprächen immer wieder unerfüllbaren Erwartungen begegnen. Verlangt man vom empirischen Wissenschaftler Aussagen in Gebieten, in denen seine Wissenschaft nicht gearbeitet hat, verlangt man insbesondere von ihm Aussagen über Wertfragen oder Sollensforderungen, so kann er nur sprechen wie irgend ein anderer Bürger auch. Er hat allenfalls den Vorteil, über mehr Information als andere um das Problem herum zu verfügen. Man sollte sich aber hüten, seine Konjekturen mit einem helleren und grösseren Halo zu verbrämen als die Überlegungen anderer informierter und gewissenhafter Diskussionsteilnehmer.

 

Wissenschaftstheoretische Überlegungen

Unter wissenschaftlichen Disziplinen versteht man mehr oder weniger stringente Systeme von gehaltvollen Sätzen, die untereinander einen Zusammenhang aufweisen und die zumeist auf einen Gegenstandsbereich bezogen sind.

Zweierlei Arten von Sätzen können unterschieden werden: Sachaussagen, d.h. deskriptive Sätze vom Typus: "hier und jetzt finde ich A" oder "wenn ich dort zur Zeit tl A finde, so finde ich zur Zeit t2 dort B" und dgl. Zweitens gibt es normative Sätze, d.h. Wertforderungen vom Typus: "A soll sein" oder "B soll nicht sein", "A ist wünschbar" oder "B ist zu vermeiden".

Der Zusammenhang der Sätze untereinander ist oft mehr oder minder hierarchisch, d.h. Aenderung von Sätzen auf höherer Ebene (Axiome, Grundforderungen) bedingen Aenderungen von Sätzen auf niedrigerer Ebene, nicht aber immer auch umgekehrt.

Von allen Sätzen, die eine Disziplin ausmachen, sei ein Teil der Sachaussagen richtig, der Rest falsch; bei den Wertforderungen seien gültige und ungültige zu unterscheiden. Ueber Richtigkeit und Gültigkeit bestehen oft Zweifel; die Disziplinen scheinen eigentlich genau zu dem Zweck entwickelt zu werden, über die Richtigkeit bzw. Gültigkeit von möglichst vielen Sätzen entscheiden zu können, indem diese aus dem Bezug' auf den Gegenstandsbereich und aus dem Bezug der Sätze untereinander mehr oder weniger wahrscheinlich Ich oder gelegentlich auch eindeutig gemacht werden. manchmal wird ausschliesslich auf den Zusammenhang der Sätze untereinander abgestellt: das sind die logischen Disziplinen wie Logik oder Mathematik; manchmal wird mehr oder weniger Gewicht auf den Bezug zu einem spezifischen Gegenstandsbereich gelegt: das sind die empirischen Disziplinen wie die Naturwissenschaften oder die Sozialwissenschaften. Man muss sich aber bewusst sein, dass es keine Disziplinen gibt, die rein auf den Gegenstandsbezug abstellen: die operationale Definition einer Sache ist nur insofern sinnvoll, als die definierte Sache einen Bezug zu anderen definierten Sachen aufweist, also Bestandteil einer Theorie bildet.

Wir bekommen so eine einfache Wissenschaftssystematik (in lockerer Anlehnung an Weingartner 1971) : Deskriptive Disziplinen wie Physik, Chemie, Astronomie, können den normativen Disziplinen wie Ethik, Theologie gegenübergestellt werden, und theoretische Disziplinen wie die Mathematik können den empirischen gegenübergestellt werden.

Die Einteilung taugt aber nicht viel, weil viele Disziplinen Mischformen sind: Normforderung ohne Sachbezug ist unsinnig; so sind die meisten normativen Disziplinen mehr oder weniger auch deskriptiv, z.B. Recht, Pädagogik. Wie schon gesagt, ist Empirie ohne Theorie, also isolierte Einzelsätze, wenig sinnvoll. Aber auch das Umgekehrte, Theorie ohne Empirie, wird zwar als reines Spiel betrieben, aber doch immer auch mit der Absicht, bei Gelegenheit die entwickelte mathematische Struktur einem Sachverhalt als Begriffsnetz aufzulegen.

Diese Verflechtung von Empirie und Theorie scheint mir überhaupt ganz wesentlich die Tätigkeit des Wissenschaftlers zu bestimmen. Besonders deutlich wird das im Falle der Anwendung einer Disziplin. Ich möchte so weit gehen und behaupten, dass Wissenschaft immer letztlich den Versuch von Problemlösung darstellt und damit auf Anwendung abzielt. Allerdings kann sich eine Disziplin unter Umständen schon recht sehr verselbständigen und eine Eigendynamik entwickeln, die den lange gehegten falschen Glauben, Wissenschaft diene der absoluten Wahrheitsfindung, nährt. Wie man sieht, kann selbst ein so hoch-abstraktes theoretisches Gebilde wie die Relativitätstheorie der Lösung des Energieproblems oder möglicherweise der beschleunigten Auslöschung der menschlichen Art "dienen".

 

Der Berater als Problemlöser

Nun bitte ich um Verzeihung dafür, dass ich so lange bei so elementaren Trivialitäten über Wissenschaften verweile. Aber ich möchte nun die Frage stellen, ob die beraterische Tätigkeit nicht der so aufgefassten wissenschaftlichen Tätigkeit strukturgleich sei: der Berater als Problemlöser.

Der Berater entwickelt ein System von Sätzen über den Gegenstandsbereich "Lebenslauf eines Klienten". Er unterscheidet Grundlegendes und Akzidentelles. Er strebt an, die Sätze untereinander mehr oder weniger konsistent zu formulieren; zu diesem Zweck formuliert er zuerst vorläufig und versucht nachher Falsches und Ungültiges auszuscheiden. Von allen seinen Sätzen beansprucht er, dass sie für die Problemlösung im Bereich "Lebenslauf des Klienten" von Bedeutung sind. Wie die wissenschaftlichen Disziplinen hat er einen spezifischen Gegenstandsbereich seiner Tätigkeit im Auge und stösst allerdings immer wieder auf Abgrenzungsschwierigkeiten. Vordergründig macht er überwiegend empirische Aussagen (eine Anamnese, ein Interessenoder ein Leistungsprofil), aber natürlich zieht er stets weiterreichende "theoretische" Zusammenhänge bei (z.B. schliesst er vom Leistungsprofil auf ein Fähigkeitsprofil, indem er Stabilitätsnachweise für seine Tests voraussetzt; oder seine Interpretation eines unangepassten plötzlichen Weinens kann Theorien der verschiedensten Art implizieren, z.B. tiefenpsychologische, oder auch einfach kumulierte Erfahrung des Beraters mit plötzlich weinenden Klienten und ähnlichen Erscheinungen).

Seine Sätze sind teils deskriptiv und teils normativ. Auch darin gleicht er verschiedenen Humanwissenschaften wie der Soziologie, der Anthropologie oder der Pädagogik. So beschreibt er etwa Fähigkeiten oder Eigenschaften, die der Klient mutmasslich hat; er beschreibt Leistungsanforderungen, die bestimmte Berufe stellen; werden die beiden deskriptiven Aussagen aufeinander bezogen, so resultieren normative Aussagen: Fähigkeiten und Anforderungen sind kompatibel oder nicht, der Beruf kann oder soll angestrebt oder vermieden werden.

Wenn Sie mir so weit folgen können, möchte ich nun zwei besondere Aspekte der beraterischen Tätigkeit herausgreifen, die geeignet sind, die Strukturgleichheit, insbesondere mit einigen wissenschaftlichen Disziplinen, noch deutlicher zu machen.

 

Genetische Gebilde

Da ist erstens die Frage der Gerichtetheit der Zeitreihen. Es gibt Wissenschaften, die ihren Gegenstand so konzipieren, dass die Sätze oder Gesetze gegen die Zeit symmetrisch sind (Mechanik, Elektrodynamik, Chemie): retrospektive und prospektive Aussagen sind nicht voneinander unterscheidbar, bzw. nur nach willkürlicher Festlegung eines zeitlichen Nullpunkts. Nicht so bei allen biologischen, geistigen und sozialen Wissenschaften: Ein Organismus, ein Individuum, aber auch eine Kultur werden von den respektiven Disziplinen als genetische Gebilde aufgefasst, deren Zeitreihe gerichtet und, wie Lewin (1922; vgl. auch Lang, 1964) sagt, nach vorne offen sind. Das heisst, im jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt der Geschichte eines solchen Gebildes ist seine Herkunft enthalten, aber seine Zukunft hängt von weiteren Bedingungen ab.

Der Wissenschaftler kann also über ein solches Gebilde rückwärts bezogene Aussagen im Prinzip ohne weiteres machen. Für jedes Merkmal wird er die zugrundeliegenden Bedingungen -- falls seine Wissenschaft erfolgreich ist -- ausfindig machen können; alles Feststellbare hat -- im Prinzip -- einen zureichenden Grund. Ohne ein solches Grundpostulat hat es keinen Sinn, Wissenschaft überhaupt zu betreiben. Nicht so aber für die prospektiven Aussagen. Hier sind nur Gesetze mit Wahrscheinlichkeitscharakter zu erwarten. Man wird nur mit Wahrscheinlichkeit erwarten können, dass die gleichen Gesetzmässigkeiten, die die Vergangenheit eines genetischen Gebildes regiert haben, auch in seiner Zukunft bestimmend sein werden, kann dessen aber nie sicher sein. Das heisst, die Anwendbarkeit von "Wenn-Dann-"-Zusammenhängen ist nur zum Teil in gleicher Weise wie bei den nicht genetischen Gebilden gewährleistet, weil nie sicher ist, ob nicht die Voraussetzungen, die im "Wenn" angegebenen Vorbedingungen, in der Zwischenzeit sich geändert haben. In den Wissenschaften über genetische Gebilde haben wir es also im Gegensatz zu den physischen Wissenschaften nicht mit Allgemeingesetzen, die in jedem Fall das Geschehen bestimmen, sondern nur mit Typen von Gesetzmässigkeiten zu tun, nämlich solchen Gesetzmässigkeiten, wie sie vordem an typischen Fällen von Bedingungskonstellationen aufgefunden worden sind: unter typischen Bedingungen gilt, dass ... Aber ob nun in einem konkreten Fall diese typischen Bedingungen für ein bestimmtes Wenn-Dann-Gesetz gegeben sind, das ist nie mit vollständiger Sicherheit festzustellen. Der typische Fall für die Anwendung des Gesetzes kann immer nur durch Indizienbeweis nahegelegt werden, und es bleibt ungewiss, ob nicht irgendwelche weiteren, nicht manifesten Bedingungen, die aber für das Zustandekommen des "Dann" im Gesetz relevant sind, nicht erfüllt sind oder zusätzlich dazu kommen.

Das ist offensichtlich, wenn man an die Uebertragung von am Individuum selbst bestimmten Gesetzmässigkeiten auf die spätere Entwicklung desselben Individuums denkt. Der Proband hat im Test X eine bestimmte Leistung gegeben; man wird mindestens etwa dieselbe Leistungshöhe erwarten; aber natürlich ändert sich der Proband, sei es durch Lernen, sei es durch Organauf- oder -abbau oder durch weitere Bedingungen. Man soll sich nichts vormachen: die als Fähigkeit konzipierte erwartete Leistungshöhe ist nichts als ein unter den gegebenen Umständen, d.h. den fehlenden Kenntnissen über die Bedingungen jener Leistung, optimaler Erwartungswert mit unbekannter Streuung. Dispositionsbegriffe sind Tautologien oder allenfalls sprachliche Kürzel für typische, aber im Detail unbekannte Bedingungskonstellationen.

 

Individualität

Noch deutlicher wird Beschränkung der Voraussagemöglichkeit, wenn man die bei den einen Individuen gefundenen Gesetzmässigkeiten auf andere überträgt. Nur insofern alle Menschen oder die Mitglieder einer definierten Population gleich sind, ist die Anwendung allgemeinpsychologischer oder gruppenspezifischer Erkenntnisse auf weitere Individuen zu rechtfertigen. Nun bin ich durchaus der Meinung, dass wir in der Tat sehr viele Gemeinsamkeiten aufweisen; jedenfalls bedeutend mehr, als die Verfechter der Machbarkeit des Menschen durch Sozialisation uns glauben machen wollen. Aber dennoch ist die prospektive Aussage über ein genetisches Gebilde im konkreten Fall stets eine offene und nicht schlüssige Sache, weil nur induktiv wahrscheinlich gemacht werden kann, dass der betreffende Typus der Bedingungen am anzuwendenden Wenn-Dann-Gesetz jetzt und hier wirklich gegeben ist.

Hier liegt ein gewichtiger Unterschied zu den physikalischen Wissenschaften vor: Wasserstoff oder Uran ist und bleibt Wasserstoff oder Uran, wo und wann auch immer. Aber der Mensch ist nicht stets notwendig derselbe.

Allerdings, in bezug auf die Anwendung der beiden Wissenschaftstypen möchte ich den Unterschied doch nicht so sehr übertreiben, abgesehen einmal von den reineren Fällen. Wenn Sie etwa an Beton denken, der doch durchaus ein physikalisch-chemisches Gebilde ist, auf den also die mechanisch-statischen Gesetze in Bümpliz und in Australien anwendbar sein müssen, so enthalten die Tabellenwerke der Ingenieure nicht umsonst beträchtliche Sicherheitskoeffizienten. Dabei wird doch Beton nach Spezifikation gemacht und nicht fertig vorgefunden. Beton hat sogar so etwas wie eine Geschichte: er altert und verändert seine Eigenschaften, was uns vielleicht noch einmal zu schaffen machen könnte, wie einige sagen, Aber bedeutsamer als der historische Unterschied scheint mir der Unterschied bezüglich der Einheitlichkeit des Gegenstandsbereichs.

Die Physik bezieht alle ihre Aussagen auf ein einheitliches Universum. Die Psychologie hat es mit so vielen Universa zu tun, wie es Individuen gibt. Gewiss werden zwischen diesen Universa Aehnlichkeiten festgestellt; aber es gibt keine Transformationsformeln, die definitiv sind, weil jedes Individuum seine eigene Geschichte hat, die nach vorne offen ist.

 

Angewandte Wissenschaft

Damit ist meines Erachtens die Anwendung der allgemeinen oder der Entwicklungs- oder der differentiellen Psychologie und ähnlicher Disziplinen zur Lösung irgendeines Problems bezüglich menschlichen Handelns durchaus strukturgleich der Tätigkeit des beratenden Psychologen im Hinblick auf die Lebensgestaltung. Psychologie wie Berater verfügen über Fragmente von Theorieansätzen, deren Gültigkeit und Generalisierungsbereich zumeist sehr ungewiss ist; und dies prinzipiell, nicht bloss infolge des noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Standes ihrer Disziplin. Beide verfügen auch Uber vielfältige Hilfsmittel zur Feststellung von Sachverhalten, d.h. sie sind prinzipiell empirisch orientiert; aber sie haben stets nur mehr oder weniger zuverlässige Vermutungen darüber, ob die Feststellung eines Sachverhaltes im konkreten Fall wirklich ein Fall jenes Typus von Sachverhalten ist, über die ihr Theorieansatz etwas aussagt. Die Aussagen, jedenfalls die nützlichen Aussagen, sind zudem mehrheitlich prospektiv; das bedeutet, dass die Feststellung des Vorliegens einschlägiger Geschehenstypen noch durch die historische Problematik erschwert ist.

Auf diesem Hintergrund bin ich nun geneigt zu folgern, dass der Berater an diagnostischen Hilfsmitteln benützen kann und soll, was immer er für interessant hält und ökonomisch vertreten kann. Denn es führt allemal nicht zu schlüssigen Aussagen darüber, was notwendig folgt. Das heisst, die Feststellungen und die darauf abstellenden Folgerungen, ob diese nun auf gültigen oder ungültigen Gesetzmässigkeiten beruhen, haben immer nur den Status von Hypothesen. Leider können die Hypothesen nicht auf ihre Gültigkeit überprüft werden, bevor nicht die weitere Lebensentwicklung, auf die sich die Beratung bezieht, stattgefunden hat. Die diagnostischen Verfahren haben also bloss heuristischen Charakter : sie helfen dem Berater, auf Ideen zu kommen, die vielleicht sonst nicht naheliegen.

Auch die Differenzierung der verschiedenen möglichen prospektiven Aussagen über ein Individuum nach ihrer grösseren oder geringeren Wahrscheinlichkeit halte ich für problematisch, wenn sie über eine ganz grobe Unterscheidung zwischen möglicherweise zutreffend vs. unwahrscheinlich hinausgeht. Das wäre Rechnen mit Zahlen, die jene Information, auf die es beim einzelnen Individuum ankommt, gar nicht enthalten, weil ja die Wahrscheinlichkeitsmasse aus dem interindividuellen Vergleich abgezogen sind. Genau wie ein Ergebnis einer sozial-empirischen Untersuchung etwa die Einschaltquote einer Unterhaltungssendung des Fernsehens oder ein Abstimmungsergebnis zwar eine Aussage oder eine Forderung über eine Population, aber in keiner Weise über ein Individuum dieser Population begründet -- Frau X hat nicht zu 35% eingeschaltet oder ist zu 51% für eine Steuerreform, sondern sie hat entweder eingeschaltet oder nicht und sie ist jedenfalls auf dem Stimmzettel entweder dafür oder dagegen --, so sind psychologische Gesetzmässigkeiten oder insbesondere Validitätskoeffizienten zunächst Deskriptionen von Populationen, und sie können allenfalls nach den Regeln der Stichprobentheorie auf andere Aggregate übertragen werden. Aus Populationsparametern kann aber natürlich nicht auf Individualmerkmale geschlossen werden. Auch wenn mit zunehmender Mess- und Vorhersagegenauigkeit die Unschärfebereiche kleiner werden, bleibt die Stelle des konkreten Individuums im Ungewissen.

Besonders problematisch scheint mir die vergleichende Betrachtung von Populationswahrscheinlichkeiten in der Anwendung auf das Individuum. Beispielsweise lassen sich für ein Aggregat von Personen aus einem Prädiktorensatz Wahrscheinlichkeitswerte für verschiedene Kriterien berechnen; aber in der Regel sind die Unterschiede solcher Wahrscheinlichkeiten erst bei ausserordentlich grossen Stichproben statistisch signifikant und damit auf das Individuum nicht anwendbar. Die Vergleichung verschieden wahrscheinlicher Entwicklungen ist umso problematischer, da ja die normativen Elemente, die in die Entscheidungen mit hereinkommen müssen, durchaus nicht so eindeutig sind: woran man Geschmack findet, sogar was Erfolg bedeutet, wird sich für den Einzelnen durchaus gelegentlich ändern und sollte deshalb z.B. Laufbahnentscheidungen nicht allzu sehr, jedenfalls nicht definitiv beeinflussen.

Ich versuche, die aufgezeigte Problematik an Beispielen zu verdeutlichen.

a) Anwendung von Wahrnehmungspsychologie auf das Problem, die Verwechslungsgefahr beim Erkennen von Signalbildern durch Lokomotivführer zu vermindern: von den fünf gebräuchlichen Vorsignalbildern werden gelegentlich zwei verwechselt; es ist ein seltenes Ereignis; Vermutungen über die Gründe sind möglich, aber aus ökonomischen Gründen nicht zu sichern. Naheliegend ist aber die Problemlösung durch Auswechslung eines Signalbildes zugunsten eines besseren. Verlangt wird von der Anwendung von Psychologie die prospektive Aussage über relativen Erfolg verschiedener Signalbildvarianten. Es geht also hier um einen begründbaren Eingriff in wenn man so sagen kann die "Laufbahn" eines kulturellen Gegenstandes, nämlich eines Zeichensystems. Sicher unendlich viel einfacher als der Lebenslauf eines Mittelschülers, aber gerade noch komplex genug. Der Sachverhalt scheint überschaubar; aber was spielt eigentlich alles mit hinein und ist also bei der Entscheidung zu berücksichtigen? Nur das räumliche Auflösungsvermögen und die Farbwahrnehmung, wie der Betriebsarzt meinte, oder auch die Gestaltwahrnehmung, die Beziehung zwischen den Elementen des Zeichensystems, die Informationsverarbeitung, die Wahrnehmungs- und Entscheidungsgewohnheiten im zeitlichen Verlauf, die Ermüdung usf.? usf.? Wir wissen es nicht. Wir können auf Grund möglichst breiter Kenntnisse über solche Wahrnehmungsund Entscheidungsprozesse so viele Faktoren wie möglich berücksichtigen. Da wir aber weder wissen, ob wir alle relevanten Einflussgrössen berücksichtigen, noch über deren unterschiedliche Bedeutung wenig mehr als intuitive Ahnungen für verschiedene Psychologen keineswegs notwendig die gleichen! haben, können wir auch keinen Wahrscheinlichkeitsgradienten der Verwechselbarkeit der möglichen neuen Signalbilder theoretisch errechnen. Die Ahnungen reichen im besten Fall gerade aus, um das Problem empirisch anzugehen: wir probierten einige mögliche Signalbildvarianten unter Berücksichtigung möglichst vieler der mutmasslich relevanten Randbedingungen in einem Modellversuch aus und kamen so zu einer Empfehlung, die sich auch in der Realsituation zu bewähren scheint (Lang, Kaufmann & Kopp, 1973). Diagnose und daran anschliessende prospektive Erwägungen auf Grund von theoretischen Kenntnissen und Erfahrungen hatten nicht mehr als heuristische Bedeutung für die Versuchsplanung.

b) Im Fall einer Laufbahnberatung ist die Menge möglicherweise relevanter Merkmale viel grösser; ebenfalls ist die Menge der mutmasslich zu berücksichtigenden psychologischen Gesetzmässigkeiten wesentlich grösser und mehrheitlich viel unbekannter als etwa im beigezogenen Bereich der Wahrnehmung; und schliesslich ist die zu erwartende Entwicklung und Individualität des Klienten eine ganz andere als die des menschgemachten und mit Absicht rigid gehaltenen Kommunikationssystems für die Lokomotivführer. Ueber Auswahl und relative Bedeutung von Sachverhalten und Gesetzmässigkeiten ist man also noch um ein Vielfaches mehr im Ungewissen. Dazu kommen erschwerend die Möglichkeit absichtlicher und unabsichtlicher Entstellungsversuche des Klienten, der vielleicht Wesentliches verleugnet oder verzerrt und Unwesentliches aufbauscht, sowie die weitgehende Beschränkung, die durch die Verlagerung des ganzen Laufbahnproblems ins verbale Medium eingeführt wird. Modellversuche -- wenn Sie nicht das verbale Medium als Modellsituation anerkennen wollen -- sind so gut wie unmöglich.

Ich bin aufgefordert worden, mich zur Förderung des Gesprächs provokativ zu äussern. Ich frage mich also, wenn ich Beratung als einen Fall von Wissenschaftsanwendung auf individualisierte und ausgeprägt genetische Gegenstände auffasse, ob der Berater (wie auch der Anwender von biologischen, Verhaltens-, Sozial- und Kulturwissenschaften) überhaupt mehr tun kann, als ein wenig in der Suppe rühren. Man kann ihn ausrüsten mit raffinierten Rührkellen und er kann auf Grund von Talent und/oder langjähriger Uebung so geschickte Rührbewegungen herausbilden, dass er die wichtigen Häppchen mit grösster Wahrscheinlichkeit ans Tageslicht rührt; aber der Rest bleibt natürlich in der Suppe, die nachher ein anderer auslöffeln muss.

Was die Diagnostik betrifft, ergibt sich von da her gesehen keine Einschränkung. Was immer einem Berater hilft, d.h. die Problemlösung verbessert (vermeintlich verbessert) mag er benützen. Es geht hier -- um eine Unterscheidung von Reichenbach (1938) beizuziehen -- um einen context of discovery. Die Tätigkeit resultiert in Aufdeckung von Möglichem, in Ansicht, Vermutung, Unterstellung, Meinung, Behauptung, Ermessen oder wie immer man das nennen will. Ich meine das keineswegs peiorativ; im Gegenteil, ich wünschte, wir wären in unserem Zusammenleben häufig etwas kühner im Entwerfen, im "Reisen an den Rand des Möglichen", wie es Musil nennt.

 

Der Berater als soziale Instanz

Nun hat aber Reichenbach dem context of discovery den context of justification gegenübergestellt. Wissenschaftliche Disziplinen sind gegenüber andern menschlichen Tätigkeiten dadurch ausgezeichnet, dass sie ihr Tun rechtfertigen, über das Vorgehen und die Ergebnisse Rechenschaft ablegen. Ich habe den Wissenschaftler, den Anwender von Wissenschaft und den Berater zunächst als Problemlöser charakterisiert. Die Probleme des Beraters und die mancher Wissenschaftler habe ich in einer Weise dargestellt, die zeigt, dass über die Güte der Problemlösungen nicht im voraus entschieden werden kann. Wollen wir unsere Betrachtung der Strukturgleichheit von Wissenschaft und Beratung fortsetzen, müssen wir also genauer die Möglichkeiten untersuchen, welche für die Rechtfertigung des beraterischen Tuns bestehen.

Ich habe bei meinen einleitenden wissenschaftstheoretischen Ueberlegungen diesen Aspekt mit Absicht ausgelassen. Nun muss ich gestehen, dass ich dazu neige, den Ausdruck Wissenschaft für solche Disziplinen zu reservieren, welche sich bemühen, ihre Aussagen intersubjektiv eindeutig zu machen. Auch damit möchte ich wiederum nicht eine Wertung bzw. Abwertung der Nicht-Nissenschaften verbinden. Wiederum im Gegenteil, ich bewundere menschliche Geistesprodukte lm Berelch der Kunst, der Literatur, des spekulativen Denkes mehr mehr die Erkenntnisse jener Wissenschaften, die solche Schöpfungen zu reflektieren, zu deuten oder zu hinterfragen versuchen. Anderseits sind wohl die spontanen Leistungen bezüglich der Organisation des Zusammenlebens fast so armselig wie die Leistungen der Sozialwissenschaften. Aber eigentlich ist es mehr eine Frage des "Jedes Ding an seinem Ort". In der heiklen Balance, die eine glückliche Existenz des Menschen zwischen Individualität und Einordnung in die Gemeinschaft ausmacht, scheint mir, genügt die Ansicht, der Entwurf, der Vorschlag des Möglichen nicht immer. Die Geschichte belegt reichlich die Zahl der Opfer, welche die Durchsetzung von Ansichten im Lauf der Jahrhunderte gefordert hat und fordert, wenn diese Ansichten mit dem Anspruch der absoluten Geltung aufgetreten sind und auftreten. Anderseits sind offensichtlich in mancherlei Dingen sachgerechtere von weniger sachgerechten Ansichten unterscheidbar; und bezüglich Wertforderungen gibt es neben manchen Zielen, über die man mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein kann, solche, die kurzfristig wünschbar sind, aber auf Grund inhärenter Zusammenhänge wahrscheinlich in unerwünschte Folgen umschlagen werden. Mir scheint der grosse Sinn empirischer Wissenschaften gerade darin zu liegen, dass sie dort, wo sie anwendbar sind, die Durchsetzungschancen sachgerechterer Ansichten und längerfristig sinnvoller Wertungen ermöglichen. So verstanden ist empirische Wissenschaft, auch wenn man nicht in allen Schwierigkeiten von ihr Lösungen erwarten darf und ihr in mancher Hinsicht sogar vorwerfen kann, dass sie mehr Schwierigkeiten gebracht als gelöst hat, doch eine epochale "Erfindung" der Menschheit: man vermeidet den Streit der Ansichten durch deren sukzessive Umformung unter strikter Einhaltung von einfachen Regeln zwecks Rückführung der Behauptungen auf einfache Feststellungen, die jedermann nachvollziehen und überprüfen kann. Immer wenn zwischenmenschliche Kooperation wichtig ist, sollte man dieses Verfahren zumindest erwägen. Zugegeben, nicht alle Sachverhalte eignen sich für eine empirische Wissenschaft. Zunächst einmal ist alles Private, das Erlebte in seiner unmittelbaren Form, ausgeschlossen. Weiter ergibt sich eine Begrenzung bezüglich der Komplexität der bearbeitbaren Sachverhalte, jedenfalls solange eine Wissenschaft noch wenig entwickelt ist.

Ich möchte nun versuchen, ein solches Verständnis von Wissenschaftlichkeit auf die Beratungssituation zu übertragen.

Zunächst einmal scheint mir, dass es sich bei der professionellen Beratung um etwas handelt , was grundsätzlich einer intersubjektiven Rechtfertigung bedarf. Wir haben es beim Berater, der seine Dienstleistung gegen Entgelt oder von Staates wegen anbietet, mit einem Rollenträger innerhalb einer sozialen Organisation zu tun. Der professionelle Berater ist eine soziale Instanz. Mit der Uebernahme der Rolle verbunden ist eine Verantwortung des Rollenträgers, sicher nicht zuletzt den Kollegen gegenüber, aber in erster Linie in freilich schwer zu spezifizierender Weise der Oeffentlichkeit gegenüber (Professionen mit einem legalisierten Status haben es in gewissem Sinne etwas leichter). Nun ist ohne Zweifel dieses Verantwortungsbewusstsein gerade bei den akademischen Berufsberatern in hohem Masse entwickelt; wir sind uns sicher alle einig darüber, dass derjenige, der Dienstleistungen des Beraters in Anspruch nimmt, gewisse berechtigte Erwartungen bezüglich Qualität der Dienstleistung hegen können muss.

Die Rechtfertigung eines Rollenstatus kann entweder aus Eigenschaften der Person des Beraters oder aus Eigenschaften seiner Tätigkeit stammen.

 

Rechtfertigung aus der Person des Beraters

In der Regel wird in unserer Gesellschaft für soziale Rollenträger eine Zulassungsschranke aufgestellt, an der sich Kandidaten für die Rolle zu bewähren haben. Im Bereich von wissenschaftlich fundierten Tätigkeiten werden Zulassungskriterien zumeist mit bestimmten Ausbildungsstandards verbunden; je nach dem legalen Status der Profession erhält der erfolgreiche Absolvent der Ausbildung ein staatliches Diplom und/oder einen von der Standesorganisation verliehenen Titel, der eine Art Kredit für die öffentliche Rechtfertigung seines Tuns darstellt. Obwohl sich der Empfänger solcher Titel in der Ausübung seiner Tätigkeit jedenfalls in der selbständigen Ausübung seiner Tätigkeit in der Regel noch nicht hat bewähren können, ist der spätere Entzug des Kredits bei Nichterfüllen des Versprechens ein sehr Seltenes Ereignis aus verständlichen, aber angesichts der realen Interessen der sozialen Gemeinschaft manchmal schwer akzeptierbaren Gründen.

Ich glaube, Sie gehen mit mir einig, aass solche Formen der Voraus-Rechtfertigung eine nicht ganz befriedigende, aber natürlich kaum zu ändernde Praxis darstellen. Sie legt das Gewicht auf formale Gesichtspunkte, während es von der Sache her gesehen eigentlich auf etwas anderes ankommen müsste. Wenn man sie bei Professionen noch akzeptieren kann, deren Tätigkeit öffentlich überprüfbare positive oder negative Wirkungen aufweist, ao scheint. sie mir in Gebieten, wo die konkreten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge so dunkel sind wie bei der menschlichen Entwicklung, doch eher problematisch. Ich bezweifle, dass sich Scharlatanerie im Gesundheits- und Lebensberatungswesen durch Gesetz in befriedigender Weise aus der Welt schaffen lassen wird.

In der Diskussion am Symposium über "Die Krise der Diagnostik" wurde gesagt, die Krise sei eine Krise des Diagnostikers (S.56f.1 und von Landolf (S.74) wurde vorgeschlagen, sie durch eine bessere "Validierung des Diagnostikers" zu lösen. Ich will nicht abstreiten, dass in der Ausbildung der Psychologen recht viel recht sehr verbessert werden kann; aber ich möchte auch davor warnen, von Ausbildungsinstitutionen etwas zu fordern, wozu sie auch im günstigsten Fall höchstens einen kleinen Beitrag leisten können. Mit der Ausbildung eng verbunden ist auch die Feststellung eines erreichten Ausbildungsstandards; und wenn die Ausbildung als Rechtfertigungsgrund für die Zulassung zu einer Tätigkeit dienen soll, so muss die Abschlussprüfung für den Erfolg in dieser Tätigkeit prädiktiv sein. Auf dem Hintergrund meiner substantiellen Einwände gegen Diagnostik als Prognosemittel und angesichts der Schwierigkeiten des Operationalisierens von Prädiktoren und Kriterien sowie der so gut wie nicht zu vollbringenden Kontrolle von weiteren Faktoren glaube ich, dass ein solches Verfahren, recht besehen, auf eine durch nichts als durch Macht zu rechtfertigende Berufsstand-Politik hinausläuft. Ueber die Wünschbarkeit einer solchen Standespolitik wird man freilich, je nach Standpunkt, verschiedener Meinung sein.

Eine weitere Form der Rechtfertigung, eine empirische gewissermassen, kannte darin bestehen, dass sich ein Berater bewährt, dass er im Lauf der Zeit bei vielen Klienten zu erfreulichen Entwicklungen beigetragen hat. Das wäre dann eine Rechtfertigung aus der Tätigkeit, die auf die Person übergegangen ist. Freilich wird eine Lösung des Zulassungsproblems vorausgesetzt; und für die Fortdauer der Rechtfertigung gibt es keine sichere, wenngleich vielleicht etwas grössere Gewähr als im formellen Fall.

 

Rechtfertigung aus der beraterischen Tätigkeit

Bleibt die Möglichkeit der Rechtfertigung aus der Tätigkeit der Beratung selbst. Der Berater müsste ausschliesslich Verfahren und Prinzipien benützen, die allgemein anerkannt, jedem Informierten voll zugänglich und nachprüfbar wären. Die Forderung ist offensichtlich übersteigert. Nicht nur handelt es sich bei der Lebenssituation eines Ratsuchenden nicht um einen öffentlich interessierenden Gegenstand, sondern manche Aspekte dieser Situation sind privat in dem Sinn, dass sie gar nicht zum Gegenstand einer empirischen Wissenschaft werden können. Zweitens ist die mutmassliche Komplexität der Problemsituationen unverhältnismässig gross angesichts des unterentwickelten Status der einschlägigen Wissenschaften. Drittens ist ein rein rationales Verfahren ausgeschlossen angesichts der genetischen Eigenschaften der Ratsuchenden, insofern es um prospektive Aussagen geht.

Eine Rechtfertigung der beraterischen Tätigkeit in dem Sinne, wie sie empirisch-deskriptive Wissenschaften für sich beanspruchen -- Rückführung aller Aussagen gemäss einfachen logischen Regeln auf Erfahrungssachverhalte, derart dass diese von jedem Informierten ohne weiteres nachgeprüft werden können -- ist also nicht möglich.

Man könnte sich vorstellen, dass bei dieser Sachlage und bei gegebenem starkem Bedürfnis, sein Tun zu rechtfertigen, der Berater den Ausweg gegangen ist, wenigstens einen Teil seiner Methoden der öffentlichen Ueberprüfbarkeit zugänglich zu halten: das wären dann die diagnostischen Verfahren gewesen, pars pro toto.

Diese Hypothese könnte als provokativer Vorwurf missverstanden werden. Da so viele von Ihnen das Schwergewicht ihrer Tätigkeit von den diagnostischen Verfahren weg verlagert haben, fürchte ich nicht, dass Sie mich so missverstehen, ich würde Ihnen Gebrauch von Psychodiagnostik als professionelles Alibi vorwerfen. Ich glaube, man kann ernstlich das Argument erwägen, dass sich der Berater sagt: Wenn ich schon meine Ratschläge eigentlich nur aus meiner Person begründen kann, anderseits aber ein öffentlicher Rollenträger bin, versuche ich so viel wie möglich von den Antezedentien meiner Ratschläge, das sind diagnostische Aussagen, zu rechtfertigen, indem ich standardisierte Methoden mit anerkannter Gültigkeit einsetze.

Bei aller Anerkennung für die Respektabilität des Motivs halte ich eine solche Rechtfertigung der Diagnostik für untauglich.

Erstens aus sachlichen Gründen: Ich habe im ersten Teil meiner Ueberlegungen deutlich zu machen versucht, dass die bestmögliche Diagnostik zusammen mit einer vollkommenen Wissenschaft vom menschlichen Handeln nicht schlüssige prospektive Aussagen machen können, weil es sich beim Gegenstand dieser Aussage, dem Menschen in seiner Welt, um ein genetisch offenes und je individuelles Gebilde handelt.

Ich würde weitergehen und zweitens fordern: Eine solche Praxis -- schlüssige Aussagen über die Zukunft der Entwicklung -- darf nicht sein. Sie nähme dem Leben der davon betroffenen Menschen ein wesentliches Stück seiner Qualität weg.

Nun, ich weiss, mit diesem Argument renne ich offene Türen ein: Die Berater wollen keineswegs diesen Anspruch stellen, die Zukunft ihrer Klienten schlüssig zu lenken. Aber dann erhebt sich die Frage: Warum und wozu dann Diagnostik? Ist dann ihre Verwendung nicht irreführend für den Klienten? Dann würde ich fragen : Wie steht es mit der Beziehung zwischen Klient und Berater? Wenn der Klient den Berater aufsucht, um seine Lebensplanung zu -/ verbessern: Was will er von ihm: eine Meinung einholen oder eine Expertenaussage?

Mein Verdacht ist, dass der Berater durch die Verwendung von standardisierter Diagnostik im Klienten die Tendenz fördert, den Ratschlag für eine fundierte Expertenaussage zu nehmen falls er nicht angesichts der häufig bedenklichen Anscheinvalidität der meisten Tests misstrauisch wird.

Ich nehme die kürzliche Entwicklung der beraterischen Praxis weg von zu viel Diagnostik wenigstens teilweise für einen Ausdruck der Berücksichtigung dieser Befürchtung. Der Berater sollte nicht den Eindruck erwecken, dass er ein Experte sei, für diesen individuellen Fall und seine Zukunft. Er könnte sich dadurch gerade das Wertvolle in seinen Beratungsmöglichkeiten verstellen. Denn er gibt ja anderseits doch wesentlich mehr als einfach eine Meinung zur Lebensplanung neben andern. Für Meinungen gibt es den Onkel, die Tante, den Freund usw. Das alles sind "Aussenansichten" der Lebensplanung; wenn der Berater das Schwergewicht auf Diagnostik legt, gibt er vor, eine weitere Aussenansicht, und zwar eine bessere, die richtige, die entscheidende, zu liefern. Lebensplanung soll aber grundsätzlich eine Sache der "Innenansicht" bleiben. Die Rolle des Beraters könnte sein, die Differenzierung dieser Innenansicht zu fördern, einmal indem er darauf dringt, dass sie artikuliert wird und dann, indem er aus seinen reichen Kenntnissen und Erfahrungen mit den Lebensläufen anderer allgemeine Informationsstücke liefert, die vielleicht im konkreten Fall von Bedeutung sein können.

 

Ich fasse das Gesagte thesenartig zusammen:

1. Eine empirische Wissenschaft wie die Psychologie (wie ich sie verstehe), kann nicht Forderungen über ihre Anwendung in der Praxis aufstellen. Bestenfalls kann der einzelne Wissenschaftler über Sachverhalte in jenem Bereich, in dem seine Wissenschaft bloss über vorläufige und unsichere Kenntnisse verfügt, Ansichten äussern und auf mögliche Zusammenhänge hinweisen, die den Praktiker bei seinen Entscheidungen beeinflussen mögen.

2. Die Beratung ist gewissen wissenschaftlichen Tätigkeiten strukturgleich. Ihre Gegenstände sind genetische und individuelle Gebilde; demnach sind prospektive Aussagen nie schlüssig, und die Uebertragung von Wissen aus einer Person auf andere ist nie stringent.

3. Insofern Beratung Problemlösung darstellt, tut sie gut, so viele Kenntnisse wie nur möglich über die jeweilige Problemlage zu erwerben und so viele möglicherweise relevante Gesetzmässigkeiten, wie bekannt sind, beizuziehen. Da aber über das Zutreffen der Beschreibung der Problemlage (die individuellen Voraussetzungen) und über die Relevanz und relative Bedeutung der beigezogenen Gesetzmässigkeiten (Erklärungsmechanismen, die über die Entwicklung bestimmen) im konkreten Fall keine Sicherheit zu haben ist, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeit bezogen auf ein interindividuelles und also im konkreten Fall irrelevantes Bezugssystem, können nicht bessere und schlechtere Methoden unterschieden werden. Die Wahl der Hilfsmittel ist beliebig, der Vorliebe des jeweiligen Beraters anheimzustellen, von ökonomischen Ueberlegungen her eher einzuschränken. Unter dem Aspekt der Problemlösung sind die psychologischen Hilfsmittel der Beratung auf eine heuristische Funktion begrenzt.

4. Insofern Beratung aber auch einen Beziehungsaspekt impliziert, muss auch die durch den Klienten wahrgenommene Funktion der Diagnostik berücksichtigt werden. Insofern sie dazu verleiten kann, die Aussagen des Beraters (auch die über die Diagnostik hinausführenden beratenden Hinweise) für absoluter zu nehmen als sie im konkreten einmaligen und sich entwickelnden Fall sein können, plädiere ich für einen Abbau der Diagnostik in der Beratung. Statt durch eine zweifelhafte Aussenansicht der Problemlage Lebensentscheidungen objektivieren zu wollen, sollte sich der Berater auf die Differenzierung der "Innenansicht" konzentrieren. Der Berater kann sein Tun nicht durch vermeintliche Fundierung einer Teilfunktion in einer Wissenschaft rechtfertigen. Diese Sachlage zwingt zu einer Auffassung der Beratung als einer Tätigkeit, die der Berater primär durch seine Person verantworten muss.

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